: Strahlend durch Schweine und Obstkisten
Fällt das Verbot der Lebensmittelbestrahlung? / Kartoffeln, die nicht keimen - Zwiebeln, die nicht austreiben: Elektronenstrahl und Kobalt-60 machen's möglich / Vitamine und Fettsäuren beeintächtigt / Zu hoch Bestrahltes strahlt zurück ■ Von Günter Beyer
„Eine sehr bewährte Anlage“, meint Ingenieur Manfred Rudolf stolz, „schon 22 Jahre in Betrieb. Die größte Schwierigkeit für uns ist die Beschaffung von Ersatzteilen“. Rudolf geht voraus, wir passieren Sicherheitstüren und steigen eine Treppe hinab. Hinter einer zentnerschweren Tür verbirgt sich das Allerheiligste: „Unser Bestrahlungsbunker“. Rudolf erklärt den Elektronenbeschleuniger, der Elektronen von geringer Energie in energiereiche Strahlung verwandelt. Dort, wo die Elektronenstrahlen austreten, läuft ein Förderband vorbei. Es transportiert kleine Blechkisten, die das Bestrahlungsgut enthalten: Mal sind es Kartoffeln oder Zwiebeln, manchmal Mangos.
Die betagte Anlage zur Lebensmittelbestrahlung hatte sich die Bundesforschungsanstalt für Ernährung in den 60er Jahren als Pilotprojekt zugelegt. Untergebracht ist der Bestrahlungsbunker auf dem Gelände der Kernforschungsanlage Karlsruhe. Mit einer Sondererlaubnis des Bundes -Gesundheitsministeriums widmen sich die Karlsruher Forscher seit 30 Jahren einem Thema: der Bestrahlung von Lebensmitteln.
Appetitlicher
Anhänger der Lebensmittelbestrahlung versprechen sich von dem umstrittenen Verfahren, daß Eßwaren haltbarer und Krankheitskeime abgetötet werden. Bestrahlte Lebensmittel, behaupten die Befürworter, hätten auch ein appetitlicheres Outfit als unbehandelte Ware. KritikerInnen dagegen argwöhnen eine Täuschung der KonsumentInnen und Gesundheitsgefahren, wenn bestrahlte Lebensmittel auf den Tisch kommen.
In der BRD ist die Lebensmittelbestrahlung per Gesetz verboten. Das kann sich ändern, wenn der Gemeinsame Binnenmarkt der EG Wirklichkeit wird und das europäische Lebensmittelrecht „harmonisiert“ wird. Die Lebensmittelbestrahlung ist in den meisten EG-Ländern erlaubt. Skeptiker fürchten, daß das Bestrahlungsverbot ebenso der europäischen Harmonie zum Opfer fallen wird wie das legendäre Reinheitsgebot für Bier.
Keine Kennzeichnung
Doch zurück in den Karlsruher Bestrahlungsbunker. Als Strahlenquelle dient den Forschern ein Elektronenbeschleuniger. Es gibt aber auch Anlagen, die mit radioaktiven Isotopen arbeiten. Die Industrie setzt gerne Kobalt-60 oder Cäsium-147 ein, um zum Beispiel medizinisches Gerät zu sterilisieren. Einweg-Spritzen, Kanülen, Kunstgelenke, Schläuche, Gummi-Handschuhe, chirurgisches Nahtmaterial sowie Verbandsstoffe und sogar Ausgangsstoffe für Kosmetika werden in der Bundesrepublik radioaktiv, mit Röntgen-oder Elektronenstrahlen behandelt, ohne daß Patienten und Konsumentinnen das ahnen. Eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht gibt es nicht. Acht solcher Bestrahlungsanlagen sind hierzulande im Einsatz. Davon sind fünf mit Kobalt-60-Strahlern ausgerüstet.
Bestrahlungsanlagen mit Elektronenquelle sind allerdings auf dem Vormarsch. „Es wird ja immer schwieriger heute, in irgendeiner Gemeinde die Genehmigung zu bekommen, eine radioaktive Quelle zu installieren“, erzählt der Leiter der Bundesforschungsanstalt für Ernährung,
Professor Johannes-Friedrich Diehl. In den USA beispielsweise seien unterschriftsreife Verträge von den Gemeinden wieder zurückgezogen worden, nachdem BürgerInnen ihren Protest angemeldet hatten. Der Elektronenbeschleuniger als elektrische Maschine werde noch eher akzeptiert.
Professor Diehl hält solche Bedenken für unbegründet: „Die Kobalt-60-Anlagen sind zum Teil seit 30 Jahren in Betrieb mit absoluter Sicherheit“, findet er und klagt, heute sei die Angst vor strahlenden Isotopen enorm gewachsen. Das Ganze sei eher „ein psychologisches Problem“.
In ihrer Wirkung unterscheiden sich Kobalt-60-Anlagen und Elektronenbescheuniger kaum: Radioaktive und Elektronenstrahlen dringen in das Lebensmittel ein und töten Zellen von Organismen: Bazillen, Bakterien und Keime. Die Unterschiede liegen im Detail: Während Elektronenstrahlen nur etwa fünf Zentimeter tief ins Lebensmittel vordringen, durchschlägt der Strahl einer Kobalt-60-Anlage sogar Schweinehälften und ganze Kisten mit Obst. Die Bestrahlung im Beschleuniger dauert nur Minuten. In der Kobalt-60-Anlage dagegen bleibt das Lebensmittel je nach Stärke der Quelle und der Bestrahlungsdosis mehrere Stunden, bis die letzte Zelle erledigt ist, der der Angriff gilt.
Die Höhe der Energie, die die Physiker in Gray (gy) messen, hängt ab vom Bestrahlungszweck. Um Insekten in Lebensmitteln abzutöten, reicht eine geringe Energiemenge. Um Bakterien abzutöten, muß mehr Energie aufgewandt werden.
Patente seit 1905
Bereits im Jahr 1905 gab es Patente zur Nutzung von Radioaktivität, um Lebensmittel zu konservieren. Praktisch angewandt wurden die patentierten Verfahren jedoch nicht, weil es keine effektiven Bestrahlungsanlagen gab. Erst als nach dem zweiten Weltkrieg radioaktive Isotopen in Kernkraftwerken in jeder Menge maßgeschneidert hergestellt werden konnten, bekam die Lebensmittelbestrahlung praktische Bedeutung. Die Industrie begann, sich für das neue Verfahren zu interessieren.
Mit Bestrahlung kann auch verhindert werden, daß Kartoffeln oder Zwiebeln auskeimem. Der wirtschaftliche Vorteil liegt auf der Hand: Der Handel kann bestrahltes Gemüse, das nicht austreibt, länger im Regal lassen.
Johannes Friedrich Diehl erinnert sich an ausgedehnte Verbrauchertests in den 60er Jahren, als Strahlen noch nicht anrüchig waren. Damals hatte man 35 Familien Säcke mit bestrahlten und unbestrahlten Kartoffeln gegeben, ohne sie kenntlich zu machen. „Je länger die Lagerperiode gedauert hat, desto mehr haben die Familien die bestrahlten bevorzugt, weil sie sich besser gehalten haben.“ Chips, die aus bestrahlten Kartoffeln hergestellt wurden, waren zwar deutlich brauner als die gewohnte weißliche Ware. Das Knabberzeug aus dem Bestrahlungsbunker sei aber „sehr gut angekommen“, versichert Diehl.
Die wissenschaftlichen Befürworter der Lebensmittelbestrahlung sehen den größeren Vorteil in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Die Zahl von 70 Todesfällen pro Jahr in der BRD durch Salmonellen -Erkrankungen könnte sinken, meint Professor Diehl, wenn die risikoträchtigen Hähnchenschenkel durchstrahlt werden.
Die angebliche Wunderwaffe gegen Verderb und Keime kann allerdings nach hinten losgehen. Das ist dann der Fall, wenn die Bestrahler eine zu hohe Dosis verabreichen. Das bestrahlte Lebensmittel kann dann selber zum Strahler werden. Dieser Bumerang-Effekt kann dann eintreten, wenn die Bestrahlungs-Energie höher ist als die Schwelle, die Kettenreaktionen normalerweise verhindert. Selbst die Bestrahlungs-Lobby betont, daß für die Lebensmittel -Bestrahlung nur relativ schwache Anlagen benutzt werden dürfen, die keine Radioaktivität im bestrahlten Lebensmittel erzeugen. Die Energieleistung sollte auf 10 Kilogray (kgy) beschränkt bleiben.
Bei hohen Dosen können darüber hinaus die Schwermetalle, die als Spurenelemente oder Schadstoffe in einem Lebensmittel vorhanden sind, anfangen zu strahlen. Der Wissenschaftliche Lebensmittelausschuß der EG tröstet sich allerdings in einer Expertise aus dem Jahre 1986 damit, daß die „geringe Radioaktivität“ aufgrund der niedrigen Halbwertzeiten zerfällt, „bevor
die strahlenbehandelten Lebensmittel in die Hände des Verbrauchers gelangen“.
Befürworter der Lebensmittelbestrahlung argumentieren damit, daß diese „induzierte Radioaktivität“, die durch Bestrahlung in Lebensmitteln zusätzlich zur natürlichen erzeugt werden kann, vergleichsweise gering sei. Das bißchen Radioaktivität mehr könne nicht schaden. Tatsächlich aber haben Studien zur Niedrigstrahlung gezeigt, daß es für Strahlenschäden keine Schwellenwerte gibt, unterhalb derer Radioaktivität im menschlichen Körper harmlos ist. „Jedes zusätzliche rem Strahlenbelastung erzeugt auch zusätzliche Krankheit“, sagt Alfred Böcking, Professor an der RWTH Aachen. Insbesondere Veröffentlichungen eines amerikanisch -japanischen Expertenteams aus dem Jahre 1987 über die Bombenopfer von Hiroshima und Nagasaki legen darüber hinaus den Schluß nahe, daß die Effekte von Niedrigstrahlung etwa 17mal so gefährlich sind wie früher angenommen.
Genauso bedenklich sind die
chemischen Veränderungen, die in bestrahlten Lebensmitteln beobachtet wurden. Dabei entstehen flüchtige chemische Produkte, sogenannte freie Radikale, die kaum erforscht sind. Selbst der Wissenschaftliche Lebensmittelausschuß der EG, der der Bestrahlung überwiegend positiv gegenübersteht, gibt zu: „Über die chemische Zusammensetzung ist bisher wenig bekannt.“ Mit Blick auf konventionelle Methoden zur Lebensmittelkonserverierung meint die Bestrahlungs-Expertin der Grünen Bundestagsfraktion, Halo Saibold: „Man tauscht ein Mittel, das man einigermaßen in der Wirkung kennt, gegen Substanzen, die nicht nachkontrolliert werden können.“
In der Expertise des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses heißt es weiter, daß durch Bestrahlung eine Reihe von Vitaminen und die für den Körper unentbehrlichen ungesättigten Fettsäuren in der Nahrung beeinträchtigt werden können. Das sei vor allem dann zu befürchten, wenn die Lebensmittel höheren Dosen als ein Kilogray
ausgesetzt werden. Energiedosen zwischen einem und zehn Kilogray sollen aber in der Praxis für die Bestrahlung von Fleisch und Fisch, Geflügel und Nüssen verwendet werden.
Ungeachtet solcher Einwände ist die Bestrahlung weltweit auf dem Vormarsch. In den besonders bestrahlungsfreudigen Niederlanden werden auch Champignons, Fisch, Hähnchen, Kartoffeln und Reis bestrahlt. In Odessa, in der atombegeisterten Sowjetunion, behandelt man sogar Getreide mit Elektronenstrahlen, um es haltbarer zu machen. Französische Gourmets können durch Strahlenbeschuß gealterten Cognac genießen.
Bald auch in der BRD
Offensichtlich ist es nur eine Frage der Zeit, wann das Bestrahlungsverbot in der Bundesrepublik fällt. Zwar hatte der 80köpfige Bundesgesundheitsrat, an dessen Voten sich die Regierung im allgemeinen orientiert, noch 1983 bekräftigt, die Lebensmittelbestrahlung sei „nicht notwendig“. Zugleich aber hatte der Rat erklärt, bei Gewürzen hätte er keine Bedenken. Beim Bundesgesundheitsministerium ruhen seitdem wohlverwahrt die Anträge von großen bundesdeutschen Gewürzfirmen, die ihren Pfeffer und Kümmel gerne unter den Strahl einer Kobalt-60-Anlage schicken würden. Aber in Bonn hält man sich einstweilen noch bedeckt. „Es wid immer wieder geprüft, ob nicht doch Alternativ-Methoden vorhanden sind, die eine Zulassung der Bestrahlung unnötig machen“, erläutert Verbraucherreferent Dr. Wolf Hölzl.
Sei aber erst einmal die Lebensmittel-Bestrahlung für Gewürze erlaubt, fürchtet Halo Saibold von den Grünen, dann werden weitere Lockerungen nicht auf sich warten lassen. Eine Ausnahmegenehmigung werde weitere nach sich ziehen. „Diese Anlagen sind ja sehr teuer. Und wirtschaftliche Rentabilität wird sich erst dann zeigen, wenn größere Mengen bestrahlt werden.“
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