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Stilfrage

Sie ist Politikwissenschaftlerin und Mutter von drei Söhnen, hat Tübingen schon als Studentin ins Herz geschlossen und sie hat einen Plan: Im Oktober will Sofie Geisel Oberbürgermeisterin in der Universitätsstadt werden. Als Sozialdemokratin geht sie gegen zwei Grüne ins Rennen.

Sie will Boris Palmer ablösen: Sofie Geisel in Tübingen. Foto: Jan Münster

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Dass eine Sozialdemokratin den vermeintlichen grünen Platzhirsch schlagen kann, hat 1998 Brigitte Russ-Scherer bewiesen, als sie Wolf-Dieter Hasenclever knapp, aber doch hinter sich ließ und Oberbürgermeisterin von Tübingen wurde. Jetzt soll das Kunststück eine Neuauflage erfahren – gegen den umstrittenen, aber bundesweit bekannten Promi Boris Palmer. Sophie Geisel, die für die SPD ins Rennen geht, hat einen erfolgreichen roten Stammbaum vorzuweisen: Vater Alfred saß 24 Jahre lang im baden-württembergischen Landtag, 16 davon als Vizepräsident, Bruder Thomas amtierte acht Jahre lang als OB in Düsseldorf. Die 50-Jährige beschreibt sich selbst trotzdem als „SPD-Karteileiche“, jedenfalls im Blick auf die vergangenen beiden Jahrzehnte. Bis Tübinger Ge­nos­s:in­nen ihr den Floh ins Ohr setzten, sie könne doch Palmer herausfordern. Den kennt sie seit dem Studium und fügt im Kontext-Gespräch nach kurzer Pause ein bestimmtes „gut“ hinzu.

Bei ihrer „Zuhör-Tour“ durch alle Teil­orte und Bezirke Tübingens hat sie die Stadt neu kennengelernt und erfahren, dass viele Menschen interessiert sind an ihrem Auftreten. „Ich bin nicht zurückhaltend“, beschreibt sich die gebürtige Aalenerin, „aber ich kann mich zurücknehmen und zusammenführen.“ Solche Fähigkeiten werde das nächste Stadtoberhaupt auch brauchen, etwa weil der Streit um die Stadtbahnroute durch die Innenstadt nicht befriedet ist. Im vergangenen Herbst waren – bei einer bemerkenswert hohen Beteiligung von fast 80 Prozent – 57 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen die Anbindung des Zentrums an die Regionalstadtbahn Neckar-Alb.

Freuen durften sich jene Initiativen, die davor warnten, dass „unsere Universitätsstadt mit Charme, Geschichte und einzigartigem Stadtbild durch Stahl-Ungetüme mit Betonbahnsteigen, starren Schienen, Oberleitungsmasten und Fahrdrähten plattgemacht wird“. Zugleich ist aber unbestritten, dass die Entscheidung das Ziel erschwert, bis 2030 klima­neutral zu werden. Geisel nimmt eine Anleihe beim grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der mit ihrem Vater so lange gemeinsam im Landtag saß: Die „Politik des Gehörtwerdens“ findet sie nachahmenswert, „damit konnte Kretschmann das Land verändern“. Und das habe sie durchaus selbst im fernen Berlin vernommen.

Nur sechs von hundert OBs sind Frauen

Die Hauptstadt ist der Lebensmittelpunkt der Familie. Nach mehreren beruflichen Stationen, darunter bei der Unter­nehmens­beratung Roland Berger, ist sie beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Mitglied der Hauptgeschäftsführung. Die Erfahrungen in Moderation und Teamarbeit will sie ins Tübinger Rathaus tragen, um aus der Stadt einen Ort des Dialogs zu machen. Ebenso wichtig ist ihr das Thema Gleichstellung. Erstens sei hier gerade in der Kommunalpolitik „der Weg noch sehr weit“ (in Baden-Württemberg sind nur sechs der gut hundert Oberbürgermeister Frauen). Und zweitens stelle sie sich dem so oft gehörten Vorwurf entgegen, zu weni­ge Frauen interessierten sich für die Arbeit in den Räten. Geschickt, so urteilen jedenfalls Begleiterinnen auf der Zuhör-Tour, verstehe die Herausforderin „als Politikerin aufzutreten und in freundlichem Ton ihre Kritik loszuwerden, ohne Palmer beim Namen zu nennen“.

Spannend wird der Wahlkampf schon allein durch die Konstellation, denn es gibt nicht nur eine Herausforderin: Der OB sieht sich mit zwei sehr ernstzunehmenden Frauen konfrontiert. Auch die Grüne Ulrike Baumgärtner, ­Palmers frühere Mitarbeiterin aus seiner Abgeordneten­zeit im Stuttgarter Landtag, möchte gewinnen. Hinzu kommt die spezielle Situation, dass Palmer nach der heftigen inner­partei­lichen Kritik an seinen diversen Äußerungen zu Themen wie Corona und Migran­t:in­nen seine Mitgliedschaft ruhen lässt, zum Zweck einer zumindest vorübergehenden Beruhigung aller Seiten in dem Parteiausschlussverfahren, das gegen ihn läuft. Die Grünen bilden im Gemeinderat mit der Alternativen Liste (AL) eine gemeinsame Fraktion; bei der OB-Wahl gehen beide aber getrennte Wege, denn die AL unterstützt Palmer dennoch – oder deshalb.

Geisel lässt unterdessen ihre Blicke in ganz andere Richtungen schweifen und hat sich bereits mit Liberalen getroffen. „Danke für die Einladung und den netten Abend“, postet sie danach, „gute Leute da, sehr aufgeschlossen und freundlich, total viele junge und viel mehr Frauen, als man bei der FDP sonst sieht.“ Sogar zur CDU hat sie Kontakte geknüpft, um gleich danach ihr persönliches Bild „ein bisschen umzupinseln: eine Partei, die das C im Parteinamen auf eine gute Weise ernst nimmt, die ein überzeugendes Gemeinwohlinteresse vertritt und durchaus auch offen darüber nachdenkt, was Fortschritt hier und heute bedeuten kann“. Das C ist die Brücke für die Protestantin, die sich als geprägt durch Christentum, Sozialdemokratie und Liberalismus bezeichnet und sich „ums bürgerliche Lager offensiv bemühen will“.

Neben Stilfragen und einem veränderten Miteinander in der Stadt sollen im Wahlkampf jene Themen dominieren, die Kommu­nal­poli­ti­ke­r:in­nen landauf, landab beschäftigen. Beim Wohnungsbau, der schon viel zu lange nicht mehr mithalte mit der „erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung“, sieht Sofie Geisel Tübingen in der Nähe von München oder Stuttgart – ein Polizeibeamter könne sich mit seiner Familie keine Wohnung mehr leisten. „Ich weiß“, sagt die Kandidatin, „dass Flächenversiegelung ein Riesenproblem ist, aber wir werden um die Ausweisung neuer Wohngebiete nicht herumkommen.“ Dasselbe gilt für die Frage, wie mit den vielen Fahrzeugen umzugehen sei, „die eigentlich Stehzeuge sind“.

Bei der SPD kam Geisel auf 100 Prozent

Einen der allerersten Palmer-Slogans („Tübingen macht blau“), 2008 für die städtische Klimaschutz-Kampagne propagiert, will sie 14 Jahre später unter die Lupe nehmen und erforschen lassen, was daraus geworden ist. „Ich finde in Berliner Bezirken inzwischen mehr blaue Dächer“, mutmaßt sie. Windkraft werde ein Thema sein, aber auch der „wertschätzende Umgang mit Ehrenamtlichen, mit Sportvereinen, mit Kunst und Kultur“ (zumal ihr Mann Musiker ist).

Die heiße Phase dieses Wahlkampfs hat noch lange nicht begonnen, Bewerbungen sind noch möglich bis zum 26. September. Mit weiteren ernsthaften Anwär­te­r:in­nen rechnet Geisel indessen nicht mehr. Die Tübinger SPD wirbt für sie als „echte Alter­native“, wobei kein Nachteil sein muss, dass der Kreisverband mit Martin Rosemann und Dorothea Kliche-Behnke im Bundes- ebenso wie im Landtag vertreten ist. Bemerkenswert, dass die 50 Mitglieder, die zur entscheidenden Versammlung kamen, ihre Genossin mit hundert Prozent zur Kandidatin gewählt haben. Und die Roten haben im Land gemeinsam mit ihrer Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik (SGK) eine Initiative zur Eroberung von Rathäusern gestartet – und Erfolge eingefahren: Erst vor wenigen Tagen gewann der Jurist Julian Stipp mit 80 Prozent der abgegebenen Stimmen in Mosbach gegen einen konservativen OB, der seine dritte Amtszeit anstrebte.

Ein Sieg in Tübingen wäre vorläufiger, dringend erhoffter Höhepunkt auf dem Weg zu den Kommunalwahlen 2024, nachdem die SPD im Südwesten über lange Jahre bittere Verluste hinnehmen musste. Dass Boris Palmer viel erreicht hat und „bundesweit sehr präsent ist“, stellt die potentielle Nachfolgerin nicht in Abrede. „Aber nach 16 Jahren könnte ein Wechsel im Politik- und Kommunikationsstil der Stadt guttun.“ Wenn der Amtsinhaber sein Herangehen charakterisieren will, kommt er gern auf seinen Vater zu sprechen, der sich als notorischer Querkopf einen legendären Ruf erarbeitet hatte, denn „der wollte immer mit dem Kopf durch die Wand, ich aber schaue vorher zumindest, ob es eine Tür gibt“. Sofie Geisel vermittelt den Eindruck, möglichst viele Tübin­ge­r:in­nen durch diese Tür mitnehmen zu wollen. Die Ausgangslage allerdings hat es sich: Bei den Gemeinderatswahlen 2019 kam die SPD in der Universitätsstadt auf knapp 14 Prozent, bei der Landtagswahl im März 2021 auf nicht einmal zwölf.

Der doppelte Palmer

Klassenbester beim Klimaschutz und prosperierende Finanzen: Tübingen unter Boris Palmer könnte als Aushängeschild für ökologisches Wachstum dienen – wären da nicht seine rhetorischen Ausfälle. So bleibt eine tiefe Entfremdung zwischen der lokalen Basis und der grünen Landesspitze.

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