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Statut für Nicaraguas Atlantikküste

■ 300 Delegierte der ethnischen Minderheiten haben dem von der sandinistischen Regierung angebotenen „Autonomiestatut“ zugestimmt / Für viele bedeutet Autonomie eher „in Ruhe gelassen werden“ / Trotzdem ein Schritt zum Frieden / Tausende von indianischen Flüchtlingen sind schon aus Honduras zurückgekehrt

Von Ralf Leonhard

Puerto Cabezas (taz) - „Die Autonomie ist wie eine Zitrone: man weiß nicht, ist sie süß oder sauer, bevor man sie kostet.“ So drücken manche Bewohner der nicaraguanischen Atlantikküste (wo es auch süße Zitronen gibt) ihre Skepsis gegenüber einem Autonomieprojekt aus, das am 23. April in einer „Vielvölkerkonferenz“ in Puerto Cabezas verabschiedet wurde. Rund 2.000 Menschen aus praktisch allen Gemeinden des Atlantikdepartements Zelaya kamen für drei Tage in Puerto Cabezas, dem Hauptort der nicaraguanischen Mosquitia, zusammen, um einen Gesetzentwurf zu diskutieren, den die Autonomiekommission der Regierung auf Grundlage von monatelangen Volksbefragungen ausgearbeitet hatte. Puerto Cabezas, im vergangenen Jahrhundert als Niederlassung einer US–amerikanischen Holzexportgesellschaft, der Bragmans Bluff Lumber Company, gegründet, atmet eine karibische Trägheit aus, die auch den Besucher sofort ansteckt. Die feuchte Hitze wird erträglich durch die Meeresbrise, die fast ständig vom Strand heraufweht. Die Hauptstadt Managua ist mehr als die 559 km entfernt, die ein Kilometerstein am Straßenrand anzeigt. Der Linienflug fällt mangels Treibstoff und Ersatzteilen aus und die einzige Straße ist nur mit geländegängigen Fahrzeugen passierbar und militärisch unsicher. Die auf mannshohen Pfosten errichteten Holzhäuser von Puerto Cabezas beherbergen Menschen aller Völker und ethnischen Minderheiten, die an der Atlantikküste heimisch sind. In den Straßen hört man karibisches Englisch ebenso wie Miskito und Spanisch. Auf dem aus engen Bretterbuden bestehenden Markt gibt es außer Wassermelonen, Zwiebeln und Keksen nichts Essbares zu kaufen. Rund 300 Delegierte der Gemeinden, die von den 2.000 übrigen ausgewählt wurden sowie Beobachter aus der Hauptstadt oder von Indiovölkern anderer Staaten füllen das Auditorium der Schule „Ivan Dixon Brautigham“ am Rande von Puerto Cabezas. Unter den Vertretern der Gemeinden finden sich auch vereinzelt ehemalige Kämpfer der indianischen Guerillaorganisationen MISURASATA und KISAN, die den Dialog mit der Regierung aufgenommen haben. Ein Völkergewirr und ein Sprachenlabyrinth: Englisch, Spanisch, Miskito und Sumu gelten als Konferenzsprachen. Obwohl praktisch alle Anwesenden zumindest zweisprachig sind, wird jede Wortmeldung gewissenhaft in die drei übrigen Sprachen übersetzt. Die Rama–Indios heute, ein Volk von kaum mehr als 500 Seelen, und die afro–indianischen Garifunas, von denen noch etwa 2.000 in Nicaragua leben, müssen sich beeilen, wenn sie ihre verschütteten Sprachen retten wollen, bevor die Alten sterben. Das Autonomieprojekt ist einen Tag lang in Gruppen diskutiert worden, bevor das Plenum zur Debatte schritt. Die meisten Delegierten sind gerade des Lesens und Schreibens mächtig, aber nicht in der Lage, die politischen Strukturen des spanisch–sprachigen Nicaraguas zu verstehen. So erklärt es sich, daß stundenlang über die Frage diskutiert wird, ob die Umbenennung des Departements Zelaya noch im Laufe der Versammlung beschlossen werden oder ob die neuen Namen nicht besser über Volksbefragungen bestimmt werden sollen. Jose Santos Zelaya war der Präsident Nicaraguas, der 1894 die bis dahin formell als britisches Protektorat geltende Atlantikregion annektierte. Die viel bedeutenderen Rechte und Pflichten des Koordinators zwischen der Region und der Region in Managua waren dagegen kein Anlaß zur Diskussion. So ist das Ergebnis der Debatte, die bis Mitternacht dauert, wohl nur bedingt Ausdruck dessen, was sich die einzelnen Gemeinden unter Autonomie vorstellen. Den Miskitos, die Entscheidungen traditionell im Konsensverfahren fällen, ist ohnedies das Abstimmen in Mehrheiten fremd. Die Guerilla soll ihre Waffen abgeben Ohne Gegenstimme wird der Artikel über die Streitkräfte angenommen, der den Weiterbestand von bewaffneten Einheiten neben der sandinistischen Volksarmee ausschließt. Derzeit bestehen Regierungsstreitkräfte und Gruppen von KISAN und MISURASATA nebeneinander, die in einen Waffenstillstand eingewilligt haben. Die ehemaligen Dschungelkämpfer sollen mit Inkrafttreten des Autonomiestatuts entwaffnet werden. Comandante „Barbon“, einer der Kommandanten von „KISAN für den Frieden“, wie diese Gruppe von der Regierung genannt wird, ist damit gar nicht einverstanden: „Wir haben nicht jahrelang dafür gekämpft, daß wir jetzt unsere Waffen abgeben und uns ergeben“, meuterte der langmähnige Miskito mit dem Rauschebart, der trotz Waffenruhe noch in der blauen Uniform der Contra herumläuft. „Barbon“ wohnt der „Vielvölkerversammlung“ nicht bei, wir stöbern ihn in der zwei Fahrstunden entfernten Gemeinde Yulu auf, wo rund 120 KISAN–Kämpfer mit dem Segen der Regierung bereits eine sogenannte kommunale Autonomie praktizieren. „Wir sind mit dem Projekt gar nicht einverstanden“, klagen die Vertreter der kleinen Fischergemeinde Ahuas Tara, nördlich von Puerto Cabezas. Die drei Männer mit den dunklen, zerfurchten Gesichtern, sitzen auf einer Steinbank am Hauptplatz und verfolgen das Geschehen nur am Rande, denn man hat sie nicht in den engeren Kreis der Debattierer gewählt. Für sie stellt sich nicht die Frage, welche Kompetenzen die autonomen Behörden haben und wie sich die Armee an der Atlantikküste zusammensetzt: „Wir wollen leben wie in den alten Zeiten: ohne Militär und Polizei“. Die Polizei durchsuche immer ihr Gepäck und nehme ihnen das Mehl weg, das sie für ihre Familien einkaufen: „Selbst jetzt, da wir von der Regierung abgeholt wurden, hat man unser Gepäck durchwühlt“. „Das unschuldige Glück wiedergewinnen“ Revolutionskommandant und Innenminister Tomas Borge, seit zwei Jahren Chef der Regierungskommission für die Atlantikküste, hat inzwischen Verständnis für die Bedürfnisse der ethnischen Gruppen, die er früher pauschal als Separatisten und Konterrevolutionäre abgestempelt hatte. „Autonomie, das heißt, das unschuldige Glück wiedergewinnen“, so definiert er den Begriff heute. In der Tat wollen die Miskitos vom Ufer des Rio Coco, einer der fruchtbarsten Gegenden Nicaraguas, keine Regionalregierung sondern gar keine Regierung, keine verbrief ten Landtitel, sondern das Recht anzubauen, wo es ihnen paßt - am liebsten an der honduranischen Seite des Grenzflusses, wo der Ackerboden mehr hergibt. Den politischen Denkern unter den Betroffenen ist klar, daß die Uhr nicht zurückgedreht werden kann zu der Zeit der Somoza–Diktatur, als die Indios ein glückliches, weil unbeachtetes und ungestörtes Dasein gefristet hatten. Seit im September 1979 die Organisation MISURASATA (Vereinigung der Miskitos, Sumus, Ramas und Sandinisten) gegründet wurde, wurden von den Bewohnern der Atlantikküste Autonomieforderungen erhoben. Über den Inhalt des Begriffs hat allerdings nie Einigkeit bestanden. 1981 wurde MISURASATA wegen „separatistischer Tätigkeit“ verboten. Die Anführer Steadman Fagoth und Brooklyn Rivera setzten sich ins Ausland ab und organisierten in Honduras und Costa Rica indianische Guerillabewegungen. Diese bekamen scharenweise Zulauf, als die Sandinisten nach der ersten Angriffswelle von Honduras her, die Bevölkerung vom Grenzfluß Rio Coco eva kuierte und ins Landesinnere verlegte. Die Revolutionsregierung setzte damals auf militärische Kontrolle und ließ sich damit auf einen mehrjährigen Dschungelkrieg gegen die andere Guerilla ein. Der Guerilla den Boden entzogen Nach dem Scheitern der Gespräche mit Brooklyn Rivera trat die Regierung die Flucht nach vorne an: sie erreichte mit einem Flügel von KISAN, der zahlenmäßig stärkeren Miskito–Guerilla, einen Waffenstillstand, ermöglichte die Rückkehr der 1982 zwangsweise umgesiedelten Miskitos an den Rio Coco und setzte eine Diskussion über ein Autonomieprojekt in Gang, das in zwei Jahren nach langwierigen Konsultationsprozessen in den Gemeinden von Zelaya Norte und Zelaya Sur Gestalt annahm und schließlich in der „Vielvölkerversammlung“ Ende April verabschiedet wurde. Diese jüngste Version wird im Laufe der nächsten Monate der Nationalversammlung in Managua vorgelegt und soll noch in diesem Jahr Gesetz werden. In dem Maße, wie das Projekt voranschreitet, hat Brooklyn Rivera, der mit seiner MISURASATA– Guerilla höchstens noch auf ein paar hundert schlecht ausgerüstete Bewaffnete zählen kann, auch politisch an Boden verloren. Für Jimmy Emery Hodgson, einen ehemaligen MISURASATA–Kommandanten, der Anfang des Jahres im Rahmen der Amnestie nach Nicaragua zurückkehrte und jetzt zwischen Managua und Puerto Cabezas pendelt, sind die Konflikte im Autonomiestatut bereits vorprogrammiert: „Spätestens, wenn die Frage der Bodenschätze akut wird“. Doch selbst diejenigen, die die Autonomie mit großer Skepsis betrachten, räumen ein, daß ein bedeutender Schritt vorwärts getan wurde. Und die Rückkehr von über viertausend Miskitos und Sumus aus den Flüchtlingslagern in Honduras beweist, daß auch unvollkommene Lösungsansätze von der indianischen Bevölkerung begrüßt werden. Was vor drei Jahren niemand für möglich gehalten hätte, scheint in greifbare Nähe gerückt: ein - wenn auch fragiler - Friede an Nicaraguas Atlantikküste.

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