piwik no script img

Stammheim: Dünne Beweislage

Im Prozeß gegen Luitgard Hornstein soll heute das Urteil verkündet werden  ■ Aus Stuttgart Edgar Neumann

„Stammheim — Endstation. Bitte alles aussteigen!“ Diese zweideutige Ansage einer körperlosen Stimme in der Straßenbahn Linie 5 werden die oft von weit angereisten BesucherInnen des Prozesses gegen Luitgard Hornstein heute wohl zum letzten Mal hören. Der Vorsitzende Richter Ulrich Berroth will heute vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts das Urteil verkünden gegen die 27jährige Düsseldorfer Studentin, der vorgeworfen wird, im Juli 1986 am Sprengstoffanschlag auf die Dornierwerke in Immenstaad am Bodensee beteiligt gewesen zu sein.

Die Verteidigung hatte vor zwei Wochen konsequent auf Freispruch plädiert, während die Bundesanwaltschaft (BAW), die von einer Beteiligung Luitgard Hornsteins an dem Anschlag bei Dornier ausgeht, zwölf Jahre Freiheitsstrafe beantragte. Dabei stützten sich die Ankläger unter anderem auf die Aussage einer Zeugin, die ausgesagt hatte, in den Tagen vor dem Bombenanschlag in ihrer Privatpension wenige Kilometer vom Firmensitz des Rüstungskonzerns entfernt eine Frau und einen Mann beherbergt zu haben. In dem weiblichen Gast glaubte sie später Andrea Sievering wiederzuerkennen, die von der BAW derselben kämpfenden Einheit zugerechnet wird wie Luitgard Hornstein. Überdies behauptet die Zimmervermieterin, daß das Paar mit dem gleichen Auto unterwegs gewesen sei, in dem später auf dem Firmenparkplatz von Dornier die Bombe explodierte.

Weil sich diese Zeugin aber in den vergangenen Jahren von Prozeß zu Prozeß an immer mehr Details erinnerte, hatten die Verteidiger noch in ihrem Plädoyer einen Hilfsbeweisantrag gestellt, der für den Fall, daß das Gericht den Aussagen der Zeugin Glauben schenken sollte, eine Zeugeneinvernahme ihres Neurologen vorsieht. Die Anwälte sind der Auffassung, daß die von Widersprüchlichkeiten geprägten Aussagen der Zeugin wenig Glaubwürdigkeit besitzen, weil ihre Wahrnehmungen durch ein neurologisch bedingtes Augenleiden beeinträchtigt sind. Der Mediziner soll nun heute vor dem letzten Wort von Luitgard Hornstein vernommen werden, vorausgesetzt, seine Patientin entbindet ihn von der ärztlichen Schweigepflicht.

Weshalb der Strafsenat ausgerechnet den Neurologen als Zeugen eingeladen hat, darüber besteht auch bei den Verteidigern großes Rätselraten. Soll die Glaubwürdigkeit der Zeugin gerettet und mit ihr ein Schuldspruch gegen Luitgard Hornstein begründet oder nur einer möglichen Revision vorgebaut werden? Das Gericht hatte es nicht für nötig befunden, auf Antrag der Verteidigung eine Postbeamtin in den Zeugenstand zu rufen, die bestätigt hätte, daß Andrea Sievering am gleichen Tag, an dem die Zimmervermieterin sie in ihrer Privatpension gesehen haben will, in Düsseldorf von ihrem Postgirokonto Geld abhob. Dies wurde von den Richtern als eine feststehende Tatsache unterstellt. Inzwischen ist auch die Behauptung der Bundesanwaltschaft, daß Andrea Sievering die Briefumschläge der Bekennerschreiben zum Dornieranschlag beschriftet habe, aufgrund einer wissenschaftlichen Widerlegung kaum noch ernsthaft zu halten.

Da in dem Vefahren die unmittelbaren Beweismittel fehlen, fragt sich, wie der Senat eine Verurteilung Luitgard Hornsteins begründen will, außer mit der gerichtlich festgestellten „Mitgliedschaft in der RAF“, wegen der sie schon vier Jahre Haft hinter sich hat. Denkbar ist auch, daß ihre Verteidiger noch in letzter Minute Beweisanträge nachschieben, um restliche Lücken in den Gedankengängen der Richter zu schließen, wodurch sich die Urteilsverkündung nochmals verzögern könnte. Sollte aber der Vorsitzende Richter Berroth die Zuhörerschaft heute auffordern, sich von den Plätzen zu erheben, um ein Urteil zu verkünden, stellt sich die Frage: Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen