: Stalins Schatten wird gebannt
■ Sowjetische Behörden wollen bisher verbotenen Film über den Diktator freigeben / Historiker Medwedew sieht darin das größte kulturpolitische Ereignis dieser Dekade / Der Film handelt von einem Diktator in einer fiktiven Stadt
Moskau (wps/taz) - „Reue „ heißt der Film, der nun in der Sowjetunion gezeigt werden darf. Er beschäftigt sich mit der Stalinära, mit dem Terror und der Bespitzelung. Seit 1984 liegt er unter Verschluß, doch nun ist die für sowjetische Verhältnisse auch in der Gorbatschow–Ära kulturpolitische Sensation da: kleine Gruppen dürfen ihn schon jetzt in Sondervorstellungen in Moskau sehen, Anfang des nächsten Jahres soll er in den Kinos anlaufen. „Die Freigabe des Films wird das größte Ereignis im kulturellen Leben unseres Landes seit langem sein“, sagte der Historiker Roy. A. Medwedew in Moskau. „Reue“ werde seiner Meinung nach wie Alexander Solschenizyns Buch „Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denisowitsch“ eine große Resonanz in der sowjetischen Öffentlichkeit haben. „Ja, dieser Film geht sogar noch tiefer als das Buch, er zeigt den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhang des Stalinismus auf.“ Als der Film des georgischen Regisseurs Tengiz Abuladze am Mittwoch abend gezeigt wurde, erklärte der Filmkritiker Viktor Demin, der einem Komitee angehört, das bis her zensierte Filme der Öffentlichkeit zugänglich machen soll, daß nun endlich die Möglichkeit da sei, „die schlimmste Periode unserer Geschichte aufzuarbeiten.“ Nach der Vorstellung wurde der Regisseur enthusiastisch gefeiert. Der Film handelt von einem Diktator in einer fiktiven Stadt. Mit seinem schwarzen Moustache sieht die Hauptfigur aus wie eine Mischung aus Hitler, Stalin und Mussolini, doch, so erinnern sich noch alte Moskauer, vor allem wie der gefürchtete Geheimdienstchef Beria. So ist z.B. die Hauptfigur Musikliebhaber wie Beria und drückt mit Gestik und Sprache seine Herkunft aus Georgien aus. Stalin und Beria waren beide aus dem Lande des Regisseurs. Neben dem Diktator geht es in dem Film um das Verschwinden eines jungen Künstlers, dessen Frau und Kinder ihn vergeblich suchen. Auch an einem Fenster, auf dem die Namen von Verschwundenen geschrieben sind, finden sie seinen Namen nicht: dafür aber diejenigen von wirklichen Personen, von georgischen Intellektuellen , die den Säuberungen zum Opfer fielen. Der Künstler kommt in ein Lager, in dem er so viele „Bekannte“ wiedertrifft, daß er kaum glauben kann, daß alle diese Größen der damaligen Zeit „Feinde des Volkes“ sein können. Die Entscheidung,den Film nun doch in die Kinos zu entlassen, hat Informationen aus Moskau gemäß Igor K. Ligatschow getroffen, der seit dem Parteitag im Februar dieses Jahres der unbestrittene Chefideologe der Partei ist. Auch wenn in dem Film der tote Diktator am Ende in seinem Garten als Geist erscheint, scheint nun die Partei den Schatten Stalins bannen zu wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen