: Stabilität ungemischt
■ In homogenen Quartieren können Fremde viel besser ihre eigene Identität sichern
Für soziale Mischung werden üblicherweise angeführt: Mischung ermögliche Erfahrung anderer Lebensweisen und man übe damit Toleranz ein; Mischung fördere die Übernahme erwünschter Verhaltensweisen der deutschen Mittelschicht, etwa der Besuch weiterführender Schulen; sie verhindere eine negative Etikettierung des Stadtteils und führe dazu, daß der Stadtteil gleichmäßiger durch die kommunale Politik berücksichtigt werde; und schließlich seien gemischte Quartiere regenerationsfähiger, da ihre Bewohner bei beruflichem Aufstieg sich nicht gezwungen sähen, umzuziehen.
Gegen soziale Mischung und für soziale Segregation werden angeführt: Der Druck, sich über seine Verhältnisse an die höheren Konsumstandards der Mittelschicht anzupassen, sei geringer; es gebe in homogenen Gebieten weniger soziale Konflikte aufgrund unterschiedlicher Lebensweisen; Homogenität sei wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren informeller sozialer Netze, auf die gerade Zuwanderer besonders angewiesen sind; schließlich könne eine homogene Umwelt die eigene Identität stabilisieren und eine gesicherte Identität ist Voraussetzung dafür, daß man sich dem Neuen und Fremden öffnen kann.
Die Kontroverse ist alt und immer noch ungelöst, ein Hinweis darauf, daß die Frage falsch gestellt ist. Es ist doch auffällig, daß Segregation per se nicht als Problem gilt. Sonst müßte die Absonderung der Oberschicht in ihren Wohngebieten mit gleicher Besorgnis betrachtet werden wie die der Unterschicht. Eben das aber ist nie der Fall, und zwar mit dem guten Grund, daß es sich bei der Segregation der Oberschicht um freiwillige, bei der der Unterschicht um erzwungene Segregation handelt. Die sozialräumliche Segregation der Oberschicht ist womöglich sehr viel schärfer, aber je höher Einkommen, Bildung und sozialer Status, desto eher beruht Segregation auf Freiwilligkeit, und dafür gibt es gute Gründe: Segregation dient der Vermeidung von Konflikten, sie erleichtert gutnachbarliche Kontakte, den Aufbau von Hilfsnetzen und sie stabilisiert durch eine vertraute soziale Umwelt. Nicht also das sozialräumliche Phänomen der Segregation ist das Problem, sondern die Art und Weise seines Zustandekommens.
Die Fragen der Segregation beziehungsweise der Mischung werden allzusehr aus der Perspektive der Verträglichkeit für Einheimische diskutiert. Um es polemisch zu formulieren: Es geht darum, wieviel Fremde eine Nachbarschaft verträgt, ehe sie zuschlägt, wieviel fremdländisch Aussehende im Straßenbild auftreten dürfen, bis sich die Deutschen bedroht fühlen. Aber ist eine solche Politik forcierter Mischung denn im Interesse der Minderheiten und fördert sie langfristig überhaupt die Integration? Es gibt gute Argumente, diese Frage mit nein zu beantworten. Mischung zerstört informelle Netze beziehungsweise behindert deren Aufbau und schwächt damit die ökonomische, die soziale und die psychische Stabilität. Diese aber sind Voraussetzung für gelingende Integration. Erst auf der Basis einer gesicherten Identität läßt man sich auf das Abenteuer des Neuen ein, und das gilt für Zuwanderer wie für Eingesessene.
Die multikulturelle Stadt ist eine Stadt, die fremde kulturelle Identitäten nicht bedroht, sondern sie stabilisiert und ihnen ermöglicht, gleichberechtigt das Eigene zur Entwicklung einer urbanen Kultur beizutragen. Multikulturelle Städte sind ein Konglomerat kulturell verschiedener Dörfer. Segregation ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg dorthin zu einer Integration ohne Unterwerfung.
Die Gesellschaft kann auf den Zustrom der Fremden mit aggressiver Abgrenzung reagieren. Die Alternative bestünde allein darin, sich auf die Dialektik von Integration und Abgrenzung einzulassen, und damit auf einen sehr langwierigen Prozeß, der Geduld und Konfliktfähigkeit von Individuen wie von der Gesellschaft verlangt, funktionierende Arbeits- und Wohnungsmärkte und sozialstaatliche Sicherungssysteme ebenso voraussetzt wie urbane Städte, die Zonen des Übergangs und öffentlichen Raum bieten sowie Quartiere für fremdartige Lebensweisen. Mit dem Zugang zu Arbeit, Wohnung, Bildung und sozialstaatlichen Sicherungssystemen und mit resignierter Toleranz gegenüber dem Fremden hätte die Gesellschaft das getan, was sie kann. Doch das Problem des „marginal man“ wäre damit nicht gelöst, aber vielleicht wäre es leichter zu ertragen.
Die Dialektik von gegenseitiger Abgrenzung und Integration ist unaufhebbar. Sie zu leugnen, führt notwendig zu Repression und zu wohlmeinenden Aufrufen zu Toleranz, die dann gerade von jenen praktiziert werden muß, die am wenigsten dazu in der Lage sind. Eine Gesellschaft, die einer Minderheit ihrer Mitglieder nicht ermöglicht, eine stabile Identität innerhalb der eigenen Kultur auszubilden, wird auch das Problem der Zuwanderung mit Ausgrenzung zu bewältigen versuchen. Walter Siebel
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