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Sprung von einem Extrem zum anderen

■ Der griechische Philosoph Cornelios Castoriadis befürchtet negative Auswirkungen auf Autonomie und Emanzipation

Castoriadis, geboren 1922, kämpfte in seiner Jugend in der Kommunistischen Partei Griechenlands und danach, bis 1945, in der trotzkistischen Organisation „Spiros Stinas“. Seit 1946 lebt er in Frankreich, wo er zusammen mit Claude Lefort um die Zeitschrift 'Socialisme ou Barbarie‘ eine Gruppe autonomer Marxisten versammelte, die von Demokratietheoretikern über Revolutionshistoriker bis zu Pychoanalytikern reichte. Derzeit lehrt Castoriadis an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris.

Massimo Boffa: Zur Debatte steht derzeit nicht nur der Bankrott des historischen Experiments „Kommunismus“, sondern der Umfang dieser Pleite und die Probleme, die sich daraus für die Linke ergeben...

Cornelios Castoriadis: Wenn Sie nach den möglichen Auswirkungen des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime auf demokratische und revolutionäre Projekte, auf Autonomie und Emanzipation fragen — Aufgaben, die die westliche Kultur in den letzten Jahrhunderten formuliert hat (nachdem sie erstmals in der griechischen Antike aufgetaucht waren) — dann fürchte ich, daß es sehr negative Konsequenzen sein werden. Wie immer bei solchen Umwälzungen springen die Menschen vom einem Extrem zum anderen. Die Apologeten des Liberalismus ziehen, seit diesem Kollaps, einen einzigen Schluß: der Kapitalismus hat gesiegt. Höchstwahrscheinlich wird die öffentliche Meinung dieser Behauptung einige Zeit folgen. Ich glaube aber nicht, daß es sich hier um einen Bankrott demokratischer, revolutionärer Projekte handelt. Das, was zusammengebrochen ist, betrifft den Marxismus, vor allem den Leninismus.

Beide gleichermaßen?

Nein. Marx hat in seiner Frühzeit als Erbe der Demokratie begonnen, war leidenschaftlich hingezogen zur französischen Revolution und zur griechischen Polis. Dann aber wurde er sozusagen „verunreinigt“ von der kapitalistischen Phantasie: Ökonomie, Produktion, Fortschritt, historische Gesetze, Wissenschaftlichkeit. Ich weiß natürlich, daß die Marx-Dter sagen, so einfach sei die Sache auch wieder nicht. Doch tatsächlich ist das, was von Marx historisch bleiben wird, sicherlich nicht seine theoretische Schärfe...

Was von ihm bleiben wird, ist seine Figur als der Prophet des wissenschaftlichen Sozialismus, als Künder eines durch historische Gesetzmäßgkeit garantierten Versprechens. Marx war, im Gegensatz zu dem, was uns meist erzählt wird, nicht der Vater des Totalitarismus. Sein Denken stand nämlich nicht nur beim Bolschewismus Pate, sondern auch der Sozialdemokratie. Kautsky z. B. verwendete bei seinen Attacken gegen Lenin Argumente, die er Marx entnommen hatte. Die wirkliche Wende, die man ohne weiteres als monströs ansehen kann, geschah durch Lenin: er ist der originäre Schöpfer des modernen Totalitarismus. Stalin ist dann noch einen Schritt weiter gegangen. Doch die späteren Ereignisse waren schon im Leninschen Konzept der Partei angelegt, nach der eine Oligarchie von Kadern die Hüterin der Gesellschaftstransformation sein soll...

Trotz alledem muß meines Erachtens das „revolutionäre Projekt“ seine Aktualität keineswegs verloren haben.

Glauben Sie, daß es einen Zusammenhang zwischen dem Phänomen der Revolution und den totalitären Ergebnissen gibt?

Nein, absolut nicht. Das belegen übrigens gerade die jüngsten Ereignisse in nahezu allen östlichen Ländern: da haben wir originäre revolutionäre Bewegungen des Volkes, die Tyrannen weggespült haben, ohne deshalb totalitäre Ergebnisse zu zeitigen... Die Frage ist freilich, ob man das, was im Westen Demokratie heißt, nicht besser als Oligarchie definiert.

In welcher Hinsicht?

Es wäre z. B. ein Leichtes, für Frankreich eine Liste der drei- oder viertausend Personen (Politiker, Industrielle, Journalisten, Intellektuelle — weniger als einer auf je zehntausend Wähler), die hinter dem Vorhang sämtliche wichtigen Entscheidungen treffen, zu erstellen. Das ist der Grundtypus einer Oligarchie.

Unterschätzt man, wenn man so einfach von „Oligarchien“ spricht, nicht das Prinzip der Gleichheit, das doch für demokratische Gesellschafsformen konstitutiv ist und dank dessen die damit ausgestatteten Länder in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt haben?

Da muß man sofort fragen, ob die Fortschritte wegen dieses Prinzips der Gleichheit erreicht wurden — oder weil die Menschen darum gekämpft haben. Wenn der Kapitalismus nicht mehr derselbe ist, den Engels beschrieben hat, so verdanken wir das doch vor allem dem Kampf der Arbeiterklasse. Das allgemeine Wahlrecht war z. B. Gegenstand überaus heftiger Auseinandersetzungen; in Frankreich gab es bis 1848 noch ein eingeschränktes Wahlrecht, das Wahlrecht für Frauen existiert erst seit 1945. Gewiß, das Prinzip „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hat die demokratischen Fortschritte ermöglicht, die wir erreicht haben. Doch genau dieses Prinzip läuft Gefahr, nur eine leere Hülse zu sein, wenn es nicht durch die wirkliche Beteiligung der Menschen mit Inhalt erfüllt wird.

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