: Sprache auf engstem Raum
■ Otto Sander las Alfred Kerr
Auf die alten Damen ist Verlaß. Wenigstens, wenn es um das gesprochene Wort geht, denn bei literarischen Lesungen erscheint regelmäßig eine Handvoll und verbreitet den Charme der milden Neugier. Selters, Baskenmütze, und ein paar von ihnen wissen gar nicht so recht, was sie da zu erwarten haben, rätseln, ob der Kerr, von dem gelesen werden soll, Journalist oder so was war. Grade gab's im TV noch Eiskunstlauf, jetzt freuen sie sich auf den großen Otto Sander. Zu Recht, denn der macht dann aus der knappen Stunde im Flöz ein kleines Ereignis.
Kerr zu lesen ist ein Genuß, Kerr vorzutragen eine Prüfung. Seine Theaterkritiken sind zwar Bravourstückchen, voll geistreicher Apercus, aber auch gespickt mit Halbsätzen, abrupten Wendungen und Interpunktionsfallen. Kerr war ein Connaisseur der Sprache, ein Meister der vieldeutigen Auslassungen und des explosiv plazierten Zitats — ein steiniger Weg für den Vorleser.
Otto Sander liest Kerrs Kritik der ersten Dreigroschenoper, eine schmunzelnde Herablassung auf das Unterhaltungstheater (»Wie das klappt... wie, fast andauernd, Unterhaltendes anfällt.«) Sander reitet den spöttelnden Ton, genießt die brüchigen Halbsätze. Man hat einen Profi vor sich, zugegeben, aber dem Mann gefällt, was er liest.
Kerr mochte Brecht nicht, das politische Theater, die Neue Sachlichkeit. Seine Sache war das Psychologische, die Leidenden, Schmachtenden, die Tiefen — Schnitzler, Strindberg und der unsägliche Ibsen, mit dem noch heutzutage die Spielpläne der Berliner Theater verstopft sind. Vermutlich spürte Kerr bereits sehr früh, daß die Kluft, die sich da zwischen Ibsen und Brecht auftat, Raum schaffte für ein ganz anderes Denken, das beiden Seiten zum Verhängnis werden sollte.
Otto Sander liest Kerrs wütende Kampfschriften gegen die Nazis, eine Schmähballade auf Hermann Göring. Kerr wetterte, schimpfte und keifte gegen »das politisch talentloseste aller Völker« und seine Henker, die in 1933 aus dem Land jagten und seine Bücher verbrannten mit dem Schlachtruf »Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache«. Im Exil kündigt er gnadenlos und ohne zu zögern dem Mitläufer Gerhart Hauptmann die jahrzehntelange Freundschaft auf. Und die tiefe dunkle Stimme Sanders liest diese bitterbösen Sätze — »Hier starb jemand vor seinem Tode« —, daß es einem die Tränen in die Augen treibt.
Alfred Kerr war ein Perfektionist im Kleinen, ein Romantiker aus Schlesien, der in Berlin lebte, solange man ihn ließ, die Welt bereiste und dabei vor allem Poesie abzuringen versuchte. Er schrieb Gedichte wie Wilhelm Busch, Reisenotizen wie die englischen Weltenbummler und Theaterkritiken wie niemand sonst. Er legte sich mit Karl Kraus an — »Herr Kraus leidet an doppelter Epigonorrhöe« —, verteidigte Frank Wedekind gegen das moralinsaure Bürgertum des Kaiserreichs und verehrte Gerhart Hauptmann bis zu jenem bösen Ende. »Ich glaube, daß die Sprache meine Sendung hienieden war: zugunsten Deutschlands. (Entschuldigen!)«, schrieb er 1927. Der hagere Otto Sander mit den tiefen Linien im Gesicht, dem rotblonden Schnäuzer und der halben Lesebrille liest zwei Hände voll Texte von einem deutschen Juden, der auf fast jedem erhaltenen Foto einen anderen Bart trägt: Alfred Kempner, der seinen Namen auf Kerr zusammengedrängt hat, genauso wie er versucht hat, der Sprache auf engstem Raum beizukommen, indem er die Kritik zur Kunst machte. Alles ist prägnant, verschmitzt und aufrichtig — sein Hund hieß Bello. Günther Grosser
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