: Sprachbegabtes
■ Die Zwischenwelt von Shimmy Disc – Kramer, Dogbowl und John S. Hall
In einer musikhistorisch grauen Vorzeit, also so vor sechs bis acht Jahren, war die Welt noch anders und klarer strukturiert. Mainstream war Mainstream, von Hardcore wütend angekläfft, und noch keiner der Multis hatte einen Alternativ-Sektor eingerichtet, um von unten abzuschöpfen. Um diese Zeit begann die öffentliche Wahrnehmung des Schaffens eines offensichtlich wirr-genialen Mentors namens Kramer, wenn auch nur für die in einigen Clubs mittlerer Größe versammelte, an abseitigem Ausdruck interessierte Weltöffentlichkeit.
Jener Mann, der von niemandem mit Vornamen gerufen wird, vereinte alle Reize, die Dichotomie-geplagte Suchende zu lenken vermochten. In eine Zwischenwelt, die genau zwischen Underground und Mainstream angesiedelt ist. Die Flaggen waren dabei sein Wohnort New York, ein Studio namens „Noise“ und eine wilde Veröffentlichungspolitik, die uns große Momente zwischen Autismus, Pop und Wahnsinn bescherte. Nun, das war vorgestern. Unzählige Blitzkarrieren, Revivals, Folk-Knödel- und LowFi-Geschrei später hat sich für Kramer und sein Shimmy Disc-Imperium wenig geändert.
Alle Bandkonzepte hat der, dem Getratsche zufolge, persönlich eher schwierige Mann aufgegeben. Seine Firma ist von der ehemaligen Bongwater-Sängerin Ann Magnussen auf Millionen verklagt worden. Ween, ein begnadetes Kind unter seinen Fittichen, ist entflogen. Auf seinen letzten Platten arbeitet Kramer im Alleingang diese Geschichte der Auflösung auf.
Nach Europa begleiten ihn nun seine begabtesten Songwriter. Während Dogbowl, immer noch Shimmy-Künstler, seit Anbeginn in grotesk-niedlichem 60er-Pop badet, präsentiert John S. Hall der ignoranten Welt seit 1987 humorvoll-kluge Texte von der Qualität eines „Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger. John S. Hall, der seine Kunst eine Zeitlang mit King Missile in angenehm gebrochenen Rock samt Majordeal bettete, ist mittlerweile ohne Label und Band. So werden die zur Gitarre vorgetragenen Weisen des in freier Kombination auftretenden Trios von jener Kraft gespeist, die schon immer der Nährboden bester Kunst war: sprachbegabte Unzufriedenheit.
Ed Brandow
20.4., MarX, 21 Uhr
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