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Spießer-Idyll -betr.: "Berichterstattung "Wiglaf Droste", taz vom 9. und 12.6.1995

Sehr geehrter Herr Carini,

was, bitte, ist ein „selbsternannter Linker“ bzw. was für andere Linke gibt es überhaupt, oder müssen die von Ihnen persönlich ernannt werden, damit sie auch als wahre Linke gelten können. In dieser unsinnigen Schmähung drückt sich genau die Mentalität aus, gegen die Droste dankenswerterweise immer wieder antritt, nämlich: Was richtig ist und wer was sagen darf, bestimmen immer noch wir.

Sie tun so, als sei Droste mit dem „Zugang zu Medien und Mikrofonen“ geboren werden, weshalb man ihn mit allen Mitteln zum Schweigen bringen darf, während seine bedauernswerten Gegner angeblich nicht wissen, wie man die Medien benutzt, obwohl in Wirklichkeit kaum jemand in den letzten Jahren so viel Presse hatte wie die Gruppen, die auf den Kindesmißbrauch aufmerksam gemacht haben. Nun sind diese Leute anscheinend über Nacht so sprachlos geworden, daß sie Scheißekübel an den Veranstaltungsorten der Droste-Lesungen ausleeren müssen, was Sie übrigens zu erwähnen vergaßen.

Ich vermute, daß inzwischen niemand mehr den Anlaß dieser auf höchstem Niveau geführten Debatte kennt: Einen Text, in dem Droste sich keineswegs über den Kindesmißbrauch lustig macht, sondern über überragende Kinderschützer, die überall den Mißbrauch wittern. Ob das politisch klug von Droste war, wäre diskutabel: daß aber Menschen, nur weil sie sich mit den Opfern von Verbrechern identifizieren, sich grundsätzlich für heilig halten, halte ich für indiskutabel. Daß sie dem Störenfried ihres muffigen Spießer-Idylls, in dem über Gut und Böse ein für allemal entschieden worden ist, darüber hinaus gewaltsam den Mund verbieten, halte ich für kriminell. Zwar enttarnen diese Gutmenschen sich selbst durch ihr Vorgehen immer wieder als typisch deutsche Michels und Michelinnen, aber das Zusehen dabei kann einem nur wenig Freude bereiten.

Mit freundlichen Grüßen,

Susanne Fischer

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