Spielfilm „One of These Days“: Drama aus dem Autofenster
Viel Tragik: Vor der Kulisse eines mehr als verrückten Hands-on-Truck-Contests fragt „One of These Days“ nach dem Glück im fossilen Kapitalismus.
Was ist Glück? Einige behaupten, Glück sei die subjektive Empfindung der drei Gs: Gesundheit, Gesellschaft und Geld. Das Erstaunliche an diesem Modell ist seine Wechselwirkung. Wenn eines der drei Gs wächst, bleibt der glückliche Gesamteindruck gleich: Laut Umfragen macht mehr Geld ab einer gewissen Grenze nicht glücklicher, ebenso wenig wie eine größere Anzahl von Freundschaften.
Und gesunder als gesund kann man nicht sein. Fehlt oder verschwindet jedoch eines der drei Gs, trösten die anderen beiden kein bisschen: Was nützt das Geld, wenn man krank ist, was Gesundheit, wenn man einsam ist. Und bei Geld (beziehungsweise dem Mangel daran, der Armut) hört die Freundschaft auf.
Glück könnte demnach durchaus ein „nagelneuer Matterhorn 220 Truck mit V8-Motor“ sein. Den blauen Pick-up gibt es, wie am Anfang von Bastian Günthers Drama „One of These Days“ ein agitierender Autohändler in die Kamera eines Lokalsenders schreit, beim alljährlichen „Hands on“-Wettbewerb in einer texanischen Kleinstadt zu gewinnen. Solche Wettbewerbe finden tatsächlich seit Jahrzehnten in den USA und anderen Ländern statt, ihr Prinzip ist so schlicht wie ambivalent: Als „Preis“ winkt ein neues Auto, und die Aufgabe der ausgelosten Kandidat:innen besteht darin, um diesen Wagen herumzustehen und das Blech möglichst lange mit mindestens einer Hand zu berühren.
Der „Wettbewerb“ zehrt somit massiv an Leib und Seele – Menschen stehen teilweise tagelang, unterbrochen nur von minimalen Toilettenpausen, brechen vor den Augen der Zuschauer:innen zusammen – oder werden gefeiert. Denn flankiert wird der Wettbewerb von einer Riesenparty mit Autoangeboten und Getränken. „That makes everybody a winner“, schließt der Händler seinen Werbespot.
„One of These Days“. Regie: Bastian Günther. Mit Carrie Preston, Joe Cole u. a. Deutschland/USA 2020, 120 Min.
Die Autohausangestellte Joan (Carrie Preston), neben deren lebensgroßem Pappaufsteller sich in der ersten Szene Kyle (Joe Cole) um einen Platz bei dem Wettbewerb bewirbt, zieht Kyles Namen später aus einer Lostrommel. Und so darf der junge Mann, der in einer Fast-Food-Kette Pommes frittiert und den neuen Wagen dringend für seine kleine Familie (Frau und Baby) braucht, ein gelbes Hands-on-Werbe-T-Shirt anziehen und sich zusammen mit 19 weiteren „Glücklichen“ an den Pick-up stellen: Sein Glück ist, im wahrsten Wortsinn, zum Greifen nah.
Bastian Günther nähert sich dem Drama in seinem konzentrierten, von seinem Stamm-Kameramann Michael Kotschi mit herausragenden Bildern ausgestatteten (und von atmosphärischen The-Notwist-Klängen begleiteten) Film mit Bedacht. Durch wenige, überzeugende Eigenschaften und passende Physis porträtiert er Kyles Mitbewerber:innen als teils sympathische, teils grausame, ganz normale Menschen, deren Gründe für die Tortur unter der texanischen Sonne ebenso verständlich sein mögen wie die wirtschaftliche Zwangslage, in der sich der Familienvater sieht.
Als Gegenpart zum mehr oder minder mittellosen Kyle, dessen Liebe zur Ehefrau und dem gemeinsamen Kind und zu einem gehörlosen Bruder deutlich sichtbar ist, stellt er die Figur Joan: Bei ihr ist es im 3G-Modell der Punkt „Gesellschaft“, die sie zu einem unglücklichen Menschen werden lässt. Denn Joan ist einsam – das sieht man ihrem Gesicht an, das immer dann in sich zusammenfällt, wenn sie sich unbeobachtet fühlt.
Preston spielt die Mittfünfzigerin, die zu Beginn der Geschichte von ihrem gebundenen Liebhaber verlassen wird (natürlich nach dem Sex), als sensible, freundliche Person, die bei ihrem verzweifelten Versuch, andere nicht mit ihren Problemen zu belasten, langsam zu implodieren scheint. Dass beide, Joan und Kyle, unglücklich sind, hat also unterschiedliche Gründe. Und man versteht schnell, dass beider Lösungsansätze fragwürdig sind.
Dem Glück hinterherjagen
Die Dramaturgie von Günthers Film folgt nur zum Teil ähnlichen Storys wie zum Beispiel Sydney Pollacks 1970 mit einem Oscar prämierten „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“: In beiden Geschichten ist es die wirtschaftliche Not, die Menschen ihre Gesundheit gefährden lässt, um dem Geld – oder dem Glück – hinterherzujagen. Pollacks Geschichte spielte während der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, in der hungrige Kandidat:innen mit der Aussicht auf Verpflegung und ein Preisgeld reihenweise bei Tanzwettbewerben mitmachten, um sich am Ende völlig erschöpft über die Tanzflächen zu schieben.
Doch der Blick Günthers, dessen Film samt der am Ende lauernden Katastrophe ebenfalls auf wahren Begebenheiten basiert, geht weiter: „One of These Days“ erzählt über die bloßen, den Tatsachen immanenten Fakten hinaus. Neben erwartbaren Konflikten, neben den verschiedenen Typen, die aus verschiedenen Gründen zusammenbrechen, und neben deren sich einstellenden Halluzinationen (und einem verblüffenden Trick mit einem erstaunlicherweise immer frischen und ausgeruhten Kandidaten) macht er in einer zweiten Ebene das personifizierte, besser gesagt durch eine Karosserie verkörperte Glück selbst zur handelnden Person. Denn irgendwann beginnt der Pick-up zu sprechen. Ob er nur mit Kyle spricht oder vielleicht auch mit den anderen – wer weiß das schon.
Dass er spricht, ist folgerichtig: Welche Bedeutung das Auto nicht nur für Kyles Chance auf Glück (Mobilität, bessere Jobs) im Autoland USA hat, zieht sich von Anfang an durch den Film. Immer wieder hat Günther Google-Earth-Kamera-ähnliche Sequenzen eingestreut, die sich langsam und verpixelt auf die Umgebung mit ihren breiten Straßen und den kleinen, flachen Häuschen scharfstellen, vor denen natürlich Autos stehen – es gibt keine andere Möglichkeit, sich zu bewegen, und ohne Mobilität kann man nicht leben.
Als Kyles Frau die kaputte, alte Familienkarre in eine teure Reparaturwerkstatt bringen lässt und Kyle zu Fuß durch das verlassene Kaff laufen muss, ruft der ungewöhnliche Anblick eines Gehenden einen Polizisten auf die Spur: Was machst du denn da, fragt der erstaunt. Und dass die Fast-Food-Filiale, in der Kyle zu wenig verdient, um sich einen neuen Wagen leisten zu können, ein Drive-Through-Restaurant ist, versteht sich von selbst.
Bitterer Kommentar
„One of These Days“ ist somit – nach Günthers hervorragenden Werken „Autopiloten“ (2007) und „Houston“ (2013), die ihre Dramen ebenfalls zum großen Teil aus Autofenstern heraus entwickeln und um das Thema Einsamkeit kreisen, auch ein bitterer Kommentar zum nicht nur hierzulande viel diskutierten Strukturwandel: Selbst wenn man sich einig ist, dass der Individualverkehr (bis auf Ausnahmen) abgeschafft gehört, vergrößert man mit dem notwendigen Versuch, den Transport nachhaltiger zu machen und letztlich die Welt vor dem Klimakollaps zu retten, in manchen Fällen die Kluft zwischen Arm und Reich. Denn so zu leben, dass man kein (oder selten ein) Auto braucht, können sich in kapitalistischen Gesellschaften nur die Reichen leisten.
Das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ bekommt in Bastian Günthers tragischer Geschichte zudem eine handfeste Note: Ein Schmied schmiedet Eisen. Ein Auto besteht aus Blech (eigentlich aus Eisenlegierungen wie Stahl). Kyle, der von dem aus der Serie „Peaky Blinders“ bekannten Briten Joe Cole mit einer verstockten, anrührenden Verletzlichkeit gegeben wird, hat also nur versucht, seinem Glück auf die Sprünge zu helfen – auf die einzige Art und Weise, die ihm möglich erscheint. Obwohl er irgendwo im tiefsten Inneren weiß, dass der blaue Pick-up ihm nicht wirklich helfen kann. Allein: Was soll er sonst tun.
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