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Archiv-Artikel

„Spieler sind Schauspieler“

Das Glücksspiel boomt und mit ihm die Zahl der Süchtigen. Wie man ihnen hilft, diskutierte in Berlin ein Kongress. Mit dabei war auch Andreas Koch, der die einzige Beratungsstelle in Berlin leitet

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Herr Koch, Sie leiten die einzige ambulante Anlaufstelle für Glücksspielsüchtige in Berlin. Ist Glücksspielsucht ein modernes Phänomen?

Andreas Koch: Spieler gab es schon immer. Als Krankheit ist es jedoch erst seit fünf Jahren anerkannt. Es ist eine Sucht, die zunimmt. Das liegt an der Ausweitung des Glücksspiels.

Spielen gesellschaftliche Veränderungen wie die Individualisierung und Ökonomisierung des Alltags bei der Zunahme der Spielsucht auch eine Rolle ?

Sicher gibt es Leute, für die Glücksspiel einen Ersatz für fehlende Anerkennung darstellt.

Warum gehen Leute dabei so weit, sich zu ruinieren?

Die meisten, die spielen, werden nicht abhängig. Bei einigen allerdings gerät, was als Spaß begonnen hat, aus dem Ruder. Das ist beim Alkohol ähnlich. Beim süchtigen Spieler wird das Spielen zum Selbstzweck. Es gewinnt eine neue Funktion.

Welche?

Einige euphorisiert es. Es gibt Spieler, die sagen, das Setzen, das Nach-Las-Vegas-Fahren ist das Ding meines Lebens. Andere sind beim Spielen völlig entspannt. Ihre Sorgen, Ängste, Nöte sind weg. Sucht braucht aber eigentlich keinen Grund.

Wie erkennen die Leute, dass sie süchtig sind?

Das wichtigste Kriterium ist der Kontrollverlust. Ein Spieler mag sich vornehmen, 50 Euro zu setzen. Die kann er sich leisten. Verliert er, zieht er nach. Dann werden aus 50 Euro 100 oder 1.000. Zur Sucht gehört eine Toleranzentwicklung: Einsätze und Dauer der Spiele nehmen zu.

Warum braucht Sucht diese Steigerung?

Um den Abnutzungseffekt zu kompensieren. Ein Spieler empfindet nichts mehr, wenn er um einen Euro spielt.

Warum halten Experten insbesondere Geldspielautomaten in der Spielhalle für gefährlich?

Die Automaten heißen eigentlich Unterhaltungsspielgerät mit Gewinnmöglichkeit und sind rechtlich gesehen kein Glücksspiel. Sie fallen nicht unter das Staatsmonopol, weil angeblich kein Vermögensopfer des Spielers verlangt wird. Das einzelne Spiel für 20 Cent mag preiswert sein. Aber durch die Verkettung von Glücksspielserien, Sonder- und Risikotasten kommen hohe Einsätze zusammen. Ein Süchtiger spielt an sechs oder acht Geräten gleichzeitig.

Und verliert wie viel?

Bei einer Stunde an mehreren Automaten kommen leicht 400 Euro zusammen. In vier Stunden verspielt er ein Monatsgehalt.

Experten sind vor allem alarmiert, weil es zwischen zunehmender Verarmung der Bevölkerung und Zunahme der Glücksspielsucht einen Zusammenhang geben soll.

In Zeiten einer niedrigen Konjunktur spielen mehr Leute, weil sie sagen, es wäre nur gerecht, wenn ich als Hartz-IV-Empfänger gewinnen würde. Das heißt nicht, dass all diese Leute nun süchtig werden.

Sind Leute in allen gesellschaftlichen Schichten süchtig?

Zu uns in die Beratung kommen jedes Jahr 450 Spielsüchtige oder Angehörige von Spielern, die wir bisher nicht beraten haben. Darunter ist natürlich der Hartz-IV-Empfänger, der seine Stütze verspielt. Zwei Drittel der Leute, die kommen, sind jedoch berufstätig. Beamte, Versicherungsangestellte. Viele Leute aus dem Bank- und Immobiliengewerbe, Selbstständige, die immense Summen verdienen und verlieren.

Wie ist es mit Glücksspiel in Migrantenkreisen?

In den Herrencafés spielt man Backgammon oder Karten um hohe Summen. Die Leute gehen anders ran, es hat einen stärkeren gesellschaftlichen Bezug. Trotzdem entsteht Abhängigkeit. Etwa zehn Prozent unserer Klienten haben einen Migrantenhintergrund. Wobei man sagen muss, Leute, die nicht Deutsch sprechen, fallen durchs Hilfesystem. Es gibt in Berlin nur unser Café als Anlaufstelle. Das ist schon völlig überlaufen.

Ist der persönliche Niedergang bei der Spielsucht schneller als beim Alkohol?

Es gibt Spieler, die sich in einem Jahr ruinieren. Viele kommen schnell wieder auf die Füße, wenn sie aufhören. Sie sind beruflich erfolgreich, zahlen in kurzer Zeit hohe Summen zurück. Sind sie schuldenfrei, fangen viele wieder an. Der Alkoholiker zerstört seinen Körper, wenn er weitermacht, der Spieler nicht. Was das Umfeld angeht: Ein Spieler kann seine Sucht verbergen. Er riecht nicht, torkelt nicht. Spieler sind Schauspieler.

Macht der Gesetzgeber genug, um die Bevölkerung zu schützen?

In Deutschland wird offen mit Sucht umgegangen. Ich halte es für unglaubwürdig, wenn mir jemand sagt, ich wusste nicht, dass ich vom Alkohol abhängig werde, vom Rauchen Krebs kriege und beim Spielen Haus und Hof verlieren kann. Der Spieler sollte sich nicht nur als Opfer sehen, sondern seine Verantwortung anerkennen. Sie ist die beste Grundlage für den Ausstieg.

Wie ist es mit jungen Leuten?

Die müssen wir schützen. Da hat die Gesellschaft eine Verantwortung. Kinder müssen konsumkritisches Verhalten lernen. Auch der Schutz des gesperrten Spielers muss ausgebaut werden. Er kommt zwar meist nicht mehr in die Casinos, in die Automatensäle schon, weil es dort keine Kontrollen gibt. Da muss der Gesetzgeber handeln. Sonst ist der Spielerschutz Augenwischerei.