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Spielend 40 Jahre DDR meistern

Das Herz flattert, die Stimme versagt, das Publikum lacht: Zehn Rentner aus Ostdeutschland führen ein Stück auf aus dem wahren Leben: ihrem Leben. So beleben sie sich und die alte Heimat  ■ Von Thorsten Schmitz

Lampenfieber kann man das nicht gerade nennen, was in Hannelore Schwarz spukt. Es ist Furcht pur. „Die Zuschauer werden mir Birnen an den Kopf schmeißen!“ Mit der linken Hand streicht sie das graue Haar in Fasson, mit der rechten knetet sie das dünne Handtaschenband. Ausgerechnet ihr wird das passieren, sie weiß es, der zarten und zahmen 69jährigen. Nur noch eine Woche bis zur Premiere von „Vertragen Sie Eintracht?“, und bis heute kämpft Frau Schwarz mit ihrer Rolle. In der ersten Szene, die sie ganz alleine eröffnet, darf sie gerade mal einen netten Satz sagen („Was für ein wunderschöner Sommermorgen!“) – und muß gleich darauf zwei große Schlucke aus einer Schnapsflasche nehmen.

Alkohol am Mittag – allein die Vorstellung findet Frau Schwarz schon igitt. In dieser Szene ekelt sie sich so vor sich selbst, daß sie den Flachmann, in dem sich ja nur Wasser befindet, mit spitzen Händen zum gespitzten Mund führt.

Noch schwerer aber fällt ihr das Eintauchen in die Seele einer Oberschwester, die wendehalber ihren Job verlor. Verhärmt soll Hannelore Schwarz rüberkommen, mit Wut auf Gesundheitsminister Horst Seehofer und tiefsitzendem Argwohn gegenüber allem Westlichen. „Warum nur kriege ich so eine Rolle“, grübelt Frau Schwarz jedesmal, wenn sie in ihre lindgrünen Ballettslipper schlüpft und die ebenso gestreifte Bluse zuknöpft. Sie möchte doch so gerne „meine Fröhlichkeit zum Ausdruck bringen“.

Zum zweiten Mal in ihrem Leben steht Frau Schwarz im Rampenlicht, und es kostet sie viel Selbstdisziplin daran zu glauben, was der Regisseur und die Schauspielerkollegen ihr seit Beginn der Proben eintrichtern: „Mensch, Hannelore, du spielst nicht dich selbst, sondern bloß einen Charakter.“

Womöglich ist es einfach nur die Nähe zur Realität, die Frau Schwarz so quälende Gedanken beschert, denn die acht Frauen und zwei Männer spielen ein Stück aus dem wahren Leben: ihrem Leben.

„In meiner Rolle steigt mir schon die DDR hoch“, sagt Frau Schwarz. Zum Beispiel in dem Moment, in dem sie besonders böse schimpft: Renate Förster, eine ostdeutsche Frau mit westdeutschem Karrierestreben, kann es kaum fassen, daß Hannelore Schwarz und die anderen Gäste im Gartenlokal noch an der DDR kleben und, nostalgisch gepolt, den SED-Sozialismus zum „richtigen“ Sozialismus verklären. „Wo leben Sie eigentlich?“ bohrt Renate, die „Powerfrau“, provozierend platt. Frau Schwarz, die Oberschwester, explodiert darauf in drei Sätzen: „Sie haben wohl mit Ihrer Vergangenheit abgeschlossen! Sie reiten wohl auf Ihrer neuen Welle! Nicht jeder ist gescheitert an der Wende, ich bin gescheitert worden!“ Und plötzlich kriegt das Stück etwas Authentisches: Der Text spielt in die Lebensläufe hinein.

Im Theaterstück meistern die zehn Laienakteure der Gruppe „Ostschwung“ 40 Jahre DDR in einer Stunde und zehn Minuten. Sie diskutieren viel, unter freiem Himmel und ohne Maulkorb, sie streiten sich laut, und es fallen Sätze, die in jedem Bericht zur Seelenlage der Ostdeutschen auftauchen. Grundsätzlich „ist die Wende gekommen“, als wären die Menschen der DDR nie dafür auf die Straße gegangen. „Ich weiß, daß wir viel erreicht haben“, sagt die Wirtin des Gartenlokals und poliert mit dem Geschirrtuch die Schnapsgläser; ein ehemaliger Schulleiter kriegt den Mund kaum auf und macht die Westdeutschen für sein Schweigen verantwortlich: „Es gibt genug laute Menschen jetzt“; und Hannelore räumt zwar ein: „Ja, mein Weg war schwer im Osten“ – indes die Vergangenheit ganz ad acta legen? So was paßt nicht zu ihrem Naturell: „Aber mein Weg war gut und nützlich. Für die Demokratie bin ich doch jetzt nur noch ein Kostenfaktor.“ Wenn Hannelore Schwarz diesen Text aufsagt, weiß man kaum, ob nun die „echte“ aus ihr spricht oder die schauspielende.

In solchen Szenen, in denen das Lamento die Stimmung im Gartenlokal drückt, bis dunkle Wolken aufziehen, fungiert die Powerfrau als gewendetes Korrektiv: „Sind wir hier im Garten oder auf einer Parteiversammlung?“ Gespielt wird die Frau mit dem zurückgesteckten Haar und den bunten Ohrringen von Gerda Haak, 68. Das heißt: Sie versucht es, so gut sie eben kann. In eine andere Rolle schlüpfen, das macht ihr Spaß. Tatsächlich aber ringt auch sie mit ihrer. „Ich bin eine ganz normale Ostfrau“, so sieht sie sich selbst. Die Powerfrau, die nach der Wende ein florierendes Import- Export-Geschäft führt, steckt nun mal nicht in ihr: „Die Rolle widerspricht mir absolut. Es ist mir schwergefallen, mich von ihr zu distanzieren.“ Daß in dem Stück „alle gegen mich stehen“, damit kann sie sich nur schwer abfinden. Und es hat eine unangenehme Erinnerung hervorgerufen: Bekannte von Gerda Haak haben die Wende profitabel genutzt, verdienen nun viel Geld als Zahnärzte – „und seitdem kennen die mich nicht mehr“. Für Gerda Haak war dieses Wendetrauma das „menschlich Fieseste, was mir je passiert ist“. Ausgerechnet sie soll nun so jemanden spielen. Das findet sie schade, einerseits. Andererseits therapiert das Stück auch Gerda Haak und ihre neun KollegInnen: „So sind wir gezwungen, uns mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen.“

Mit normalen Maßstäben läßt sich das Theaterstück sowieso nicht messen, das findet auch Regisseur Jens Claussen, 32 Jahre jung und aus dem Westen. Das Spiel auf der Bühne sei eine „große Herausforderung“ für die Rentner aus dem Osten, denn es touchiere ihre Seelen. Die Wende habe das Selbstbewußtsein der zehn Frauen und Männer empfindlich gestört, es müsse sich erst wieder entwickeln. „Was ihnen früher Heimat war, das hat sich verändert. Sie sind im neuen Staat noch nicht angekommen.“

Ein Stück Heimat, das sind auch die täglichen Proben in einer Fabriketage in Berlin-Friedrichshain. So bleiben sie fit und „vereinzeln“ nicht, wie Reinhold Scholze, 69, es bei vielen Gleichaltrigen beobachtet. Überhaupt fehlt den Ost-Alten die Solidarität, das sagt die Theatercrew unisono. „Wir Rentner im Osten sind ja nicht gerade auf Rosen gebettet“, findet Gerda Haak und zieht ihre Lippen rot nach. In den vier Stunden Proben üben sie die verlorene Solidarität – und auch jenseits der Bühne. Das Theater hat sie zusammengeschweißt, sie fahren zusammen in die Kur, pflegen sich gesund, wenn jemand krank ist, gehen ins Museum, ins Theater. Spielend erhalten sie sich so ein gutes Stück DDR. „Bei uns hieß das Kollektiv“, erklärt Ingeburg Jahn, 67, im Stück eine Kaufhausverkäuferin, im wahren Leben 30 Jahre lang Stadtführerin in Ost-Berlin.

In den Pausen sitzen sie an einem improvisierten Tisch, packen ihre Kalbsleberwurstbrote aus der Alufolie, schälen Mandarinen, naschen Restposten Weihnachtsdominosteine, reichen sich den Taschenspiegel, um den Sitz des Lidstrichs zu prüfen. Sie kämmen ihre Haare, als gelte es, einen Schönheitswettbewerb zu bestehen. Sie brühen frischen Kaffee auf und unterschreiben tuschelnd eine Postkarte mit Genesungswünschen für einen gemeinsamen Freund. Sie vereinbaren, wer zur Premierenfeier Bohnen-, wer Kartoffelsalat macht – und sie überzeugen Hannelore Schwarz, daß sie noch eine Spur giftiger spielen soll. Als der Regisseur ihnen verbietet, ins Publikum zu linsen, nicken sie synchron: „Ihr dürft nie gucken, wie ihr ankommt.“

„Ist doch schön bei uns“, stellt Reinhold Scholz mehr fest, als daß er fragt. Und gickelt mit Ingeburg Jahn um die Wette. Wie überhaupt alle lachen und Witze reißen und rumhüpfen wie Kinder auf einem Schulhof. Sie geben sich die Wärme, die ihnen fehlt in der neuen Heimat, und bleiben so auch jung. Herr Scholze wird zur Premiere Lob einheimsen für seinen Bohnensalat.

Am Abend der Uraufführung in einem Foyer der AOK glühen sogar die Ohren des Regisseurs vor Aufregung. Er gibt ultimative Instruktionen und hat alle Mühe, die hochnervösen jungen Alten zu besänftigen. Sie kriegen kaum Luft vor Spannung, vergessen für Momente Text und Positionen, Fingernägel brechen ab, und warum verliert Reinhold Scholze plötzlich seine Stimme?

Kurz vor der Premiere ziehen sie sich in einen schmucklosen Raum zurück – und atmen kollektiv die Aufregung weg. Die Augen sollen sie schließen dabei, aber Ingeburg Jahn schielt immer mal wieder aufs Textbuch. Dieser eine verdammte Satz will ihr einfach nicht in den Kopf. Powerfrau Gerda Haak wird, ganz plötzlich, von einer großen Ungewißheit heimgesucht: „Wie wir wohl ankommen? Das Thema ist viel zu brisant.“ Ingeburg Jahn, die im Stück eine Polonaise durchs Gartenlokal anführt, bekennt nach einem Jahr Proben: „Ich hasse Polonaisen! Wenn die irgendwo laufen, gehe ich nie mit, dieses Anfassen!“ Und drei Minuten vor der Premiere beschließt Hannelore Schwarz, dem Regisseur doch noch mal die Meinung zu sagen: „Ich will nicht so spitz, so scharf spielen, wie er das will.“

Für Korrekturen im Wesen der Oberschwester fehlte Hannelore Schwarz entweder der Mut oder die Muse oder beides – sie spielte giftig und grantig wie nie. Niemand warf mit Birnen nach ihr, von wegen: Sie mußte nur den Mund aufmachen – und das Publikum lachte.

Im Premierentrubel, zwischen den Blumensträußen, Scholzens Bohnensalat und dem Küßchen- links-Küßchen-rechts, konnte man Hannelore Schwarz reden hören. „Daß die Leute so gelacht haben! Na ja, ich bin eben auch witzig.“

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