piwik no script img

Spiel um die Einsamkeit

■ Thalia: Angela Winkler wiederbelebte Else Lasker-Schüler

Die Reise nach Jerusalem, das Kinderspiel um den fehlenden Stuhl, ist in der Wirklichkeit meist ein grausames Spiel um einen Platz in der Gemeinschaft, das umso härter wird, je größer der Erfolgsquotient ist, das aber schließlich pradoxerweise den Sieger ausschließt. Angela Winkler zelebrierte dieses Spiel am Sonntagabend im Thalia-Theater als die einsame Verlorenheit in einer Welt der Phantasie, nachdem die Möglichkeiten des wirklichen Lebens keinen Platz mehr gefunden haben. Ein subjektiver Abend, an dem nicht ein Werk, sondern eine Autorin aufgeführt wurde: Else Lasker-Schüler.

Für eine gute Stunde wurde in Die Reise nach Jerusalem in einer beeindruckenden Schaupielerin eine zerrissene Dichterin lebendig, die ängstigt und abstößt mit ihrer Bedürftigkeit und ebengleich uns voyeuristisch in die Rolle zwingt, zu sehen und zu hören, wie klein und gierig wir doch neben unseren Träumen zurückbleiben. „Ich werfe mein Herz unter Euch, und ihr werdet es pochen hören“ schreibt sie in ihrem Roman Mein Herz. Im Thalia pochte eine Stunde lang der Wahnsinn einer Frau, die ohne Botschaften von außen nichts war und sich umso mehr erträumte, je mehr sie an Faßbarem verlor.

Angela Winkler erschuf mit präziser Artikulation, minimalistischen Gesten und hypnotisierendem Blick Lasker-Schülers Traumwelt. Eine ichbezogene einsame Frau in einer engen Berliner Schreibstube erdenkt sich fortwährend Fürstentümer, Prinzen und ganze Himmelreiche. Sie schweift zurück in ihre Kindheit zu bunten Knopfreihen, aus denen „Knopfverse und Strophen“ wachsen, und manchmal tatsächlich zurück zur Realität. Dann schreit und bittet sie in Briefen erregt um Geld und Anerkennung. Am Ende ist kein Platz mehr da für die jüdische Dichterin in Deutschland. Sie sitzt auf ihren Koffern, gepackt zur wirklichen Reise nach Jerusalem, das sie nicht mehr verlassen sollte. Das Publikum zeigte sich überwältigt von beiden Künstlerinnen.

Elsa Freese

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen