: „Spiegel der Gesellschaft“
■ Friedhofsführung in Ohlsdorf: Eine Reise durch die Zeit zu Prominenten, Grüften, Hakenkreuzen und Bronzegräbern Von Heike Haarhoff
Vor dem Weg zu Gustav Gründgens Grab gruselt es Helmut Schoenfeld manchmal. Nicht, weil die Gruft besonders gespenstisch wäre – Helmut Schoenfeld findet keine der 250 000 Ruhestätten auf dem Ohlsdorfer Friedhof so richtig schaurig. „Alle wollen sie hierhin geführt werden“, begründet er sein Mißfallen: „Gustav Gründgens, Hans Albers, Ida Ehre, das sind Selbstgänger. Wer nur ein einziges Mal kommt, will die prominenten Gräber sehen.“
Helmut Schoenfeld aber spaziert seit sechs Jahren regelmäßig, ehrenamtlich und laut redend über den größten Parkfriedhof Europas. Als Friedhof-Führer des Förderkreises Ohlsdorfer Friedhof e.V. verirrt er sich inzwischen nicht einmal mehr auf den verwinkelten Schleichwegen des 400 Hektar großen Totenreiches. Mehr als 1,3 Millionen Verstorbene wurden hier seit 1877 beigesetzt.
Am liebsten zeigt er „die Ecken, die den meisten sonst gar nicht auffallen würden.“ Dazu gehört zum Beispiel das 4 000 Jahre alte Hügelgrab aus der Bronzezeit nahe des Haupteingangs: In weiser Voraussicht wurde es ausgerechnet auf dem Flecken Erde angelegt, den Hamburger Senat und Bürgerschaft Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls als Begräbnisplatz für ihre Toten auserkoren. „Damals“, erzählt der weißhaarige 62jährige, „waren die kirchlichen Friedhöfe vor dem Dammtor überbelegt; deshalb wurde der Architekt Johann Wilhelm Cordes mit der Gestaltung eines Zentralfriedhofs beauftragt.“
Die Konzeption als „Parkfriedhof“ wurde bewußt gewählt, „um zugleich dringend benötigte Grünflächen zur Erholung zu schaffen. Den Leuten sollte so die Scheu vor dem Friedhof, dem Tod und allem, was dazu gehört, genommen werden.“ Binnen kürzester Zeit wurde der Park zur Attraktion: Um die Jahrhundertwende fuhren die Straßenbahnen im Zwei-Minuten-Takt zwischen Innenstadt und Ohlsdorf hin und her. „Am Eingang zum Friedhof waren die Gastwirtschaften, da wurde gesoffen.“
Dieses „natürliche Verhältnis zum Tod“ vermißt Helmut Schoenfeld heute. „Daß es ein Bedürfnis gibt, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, wissen wir, seit unser Verein Führungen anbietet.“ Bei seiner ersten Führung kamen 60 Menschen, „trotz eisiger Temperaturen von minus sechs Grad“, erinnert sich Schoenfeld. „Manchmal zeige ich nur Pflanzen, dann den jüdischen Teil – je nach Interesse der Besuchergruppe.“
Helmut Schoenfeld fühlt sich weder vom Morbiden angezogen noch haben seine Gänge über den Friedhof etwas mit Totenkult zu tun: „Ich liebe einfach die Ruhe hier.“ Bevor er 1991 in die Umweltbehörde wechselte, um sich von dort aus um die Hamburger Friedhöfe zu kümmern, arbeitete er jahrelang als Garten- und Land-schaftsarchitekt auf dem Friedhof. „Mit der Zeit habe ich mich an die vielen Beerdigungen gewöhnt.“
„Natürlich wird man nachdenklich, wenn man die Inschriften liest. Man überlegt sich dann, wie alt ist der geworden, und wie alt bist du jetzt. Aber man kann nicht verlangen, daß man bei jeder Beerdigung mittrauert: Wenn auf der Mönckebergstraße ein Krankenwagen mit Blaulicht vorbeirast, kann man sich das auch nicht jedes Mal zu Herzen nehmen.“
Für Helmut Schoenfeld ist der Friedhof vor allem „deshalb so interessant, weil er der beste Spiegel der Gesellschaft ist“: Während der ältere Teil mit den vornehmen Gräbern an die Villenbereiche Hamburgs erinnere, ordneten sich die neueren, kleineren Gräber „wie Sozialbauwohnungen der 20er Jahre der Gesamtheit unter.“
Vom Korporationsgedanken der Handwerkerzünfte, die vor 100 Jahren Wert darauf legten, eine gemeinsame Genossenschafts-Grabstätte zu haben, „bis hin zu den bedenklichen Inschriften und Hakenkreuzen auf den Grabsteinen aus der NS-Zeit“ läßt es sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof durch die Zeit reisen: „Es gibt kaum einen Ort, an dem das Leben so wahrheitsgetreu dokumentiert ist.“
Die letzte Führung in diesem Jahr: Sonntag, 15. Oktober, um 10.30 Uhr, Eingang Fuhlsbütteler Straße (U/S-Bahn Ohlsdorf).
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