: Sperrmüll in der Sackgasse
Nichts braucht die Stadt Hannover dringender als die Kunstwerke von Seward Johnson
Wenn man in einem Museum für moderne Kunst arbeitet, lässt es sich kaum vermeiden, seine Mitmenschen ab und an bei der Bildbetrachtung zu beobachten. Das ist oft kein schöner Anblick. Meist stehen sie da, den Kopf schief an die Schulter geklebt, die Arme vor der Brust verschränkt, während die Augen ruhelos über ein Kunstwerk schweifen, als müsste zwischen Uekers Nagelbrettern oder Tinguelys kinetischen Gerätschaften eine Gebrauchsanleitung versteckt sein. Selbstverständlich finden sie keine. Dann sind die Menschen beleidigt und schreiben – weil der Frust raus muss – in die Ausstellungsbücher nicht einfach die schönen Worte „Das verstehe ich nicht“ (was dem Künstler respektive dem Kurator immerhin zu denken geben könnte), sondern ein trotziges „Das kann ich auch“.
Schuld daran ist Joseph Beuys. Er kam Ende der Fünfzigerjahre aus der rheinischen Tiefebene, trug einen toten Hasen vor sich her und behauptete: „Jeder ist ein Künstler.“ Das war zwar sehr nett, ist aber grober Unfug. Warum, lässt sich stante pede am Beuys’schen Oeuvre demonstrieren. Eines der spektakulärsten Werke des Menschen- und Filzfreundes war eine ranzige Fettecke, die Beuys in eine Badewanne setzte und in Wolfsburg ausstellte. Es gab damals einen Riesenskandal, weil Putzfrauen den unansehnlichen Plocken nächtens in der Toilette entsorgten, was wiederum ein paar Wachmänner veranlasste, die Wanne mit Wasser zu füllen, um ihr Bier zu kühlen. Die Versicherung des Museums zahlte anstandslos ein sechsstelliges Schmerzensgeld an Beuys. Für meine alten Schmalzstullen hat hingegen noch keiner mehr als ein angeekeltes „Bäh“ übrig gehabt. Ergo: Beuys kann’s, ich nicht.
Doch es gibt Fälle, da ist das Wesen der Kunst nicht so leicht zu fassen. Greta Garbo zum Beispiel renommierte gern damit, dass sie vier Picassos besaß. „Allerdings hingen zwei davon verkehrt herum“, da war sich der Schriftsteller Truman Capote „absolut sicher“. Aber ist es noch zulässig, einen verkehrt herum hängenden Picasso als Kunstwerk zu bezeichnen? Wahrscheinlich schon. Als Warhol Messingplatten bepinkelte, war es ja auch völlig egal, wie herum man das Ganze betrachtete. Es brachte ihm Ruhm und eine schöne Stange Kohle. Wie es den Kunstbetrieb ja auch nicht stört, dass Georg Baselitzens Menschenbildnisse für Uneingeweihte immer auf dem Kopf zu stehen scheinen. Er male sie halt so, sagt Baselitz – zuerst unten den Kopf, dann oben die Beine. Wenn jemand seine Bilder vom Kopf auf die Füße stelle, also „richtig herum“ an die Wand hänge, sei das eigentlich verkehrt. Im Übrigen, versicherte der Maler schriftlich, habe diese unorthodoxe Denkungsart nichts damit zu tun, dass er einmal beim Laufen über einen zugefrorenen See hart hingeschlagen und ihm nachher „ein singender Ton“ im Schädel verblieben sei. Ein Ton, den er, Baselitz, erst Jahre später wieder losgeworden sein will, als er exakt „dieselbe Note nach einem Paukenwirbel in Bruckners 2. Sinfonie“ nochmals hörte.
Man kann es selbstverständlich gleich so halten wie der französische Philosoph Bergson. Der dekretierte vor 100 Jahren, der Intellekt sei in Sachen Kunst gänzlich auszuschalten. Ein schöner Gedanke, der uns in eine produktive Sackgasse beziehungsweise nach Hannover führt. Dort plant der Verkehrsverein die Anschaffung von acht Figuren des Straßendekorateurs Seward Johnson zum Stückpreis von 100.000 Mark. Es handelt sich um ein völlig ironiefreies Pandämonium bräsiger neuer Mittig- und Miefigkeit, das schon zu Expo-Zeiten vor Karstadt Kameras, Hüte und Einkaufstüten schwenkte. Man kann auch sagen, um „ästhetischen Sperrmüll“, wie ein städtisch besoldeter Museumsdirektor öffentlich anmerkte und eine wütende Leserbriefdebatte entfachte.
Die CDU-Fraktion beeilte sich denn auch, einen Antrag in den Stadtrat einzubringen: „Es wäre [. . .] bedauerlich, wenn diese ‚Mitmenschen‘ nach Beendigung der Expo aus der Stadt entfernt würden.“ Unverbildete Volksgenossen halten die Homunkuli nämlich für Kunst, die „tausenden Menschen Freude macht“. Der Grund liegt auf der Hand. Johnson schuf sie augenscheinlich nach ihrem Ebenbild. Und das Ensemble ist wirklich erschreckend lebensecht. Hannovers Oberbürgermeister Schmalstieg beispielsweise wurde wiederholt beobachtet, wie er versuchte, einem der Bronzekameraden das sozialdemokratische Kommunal-Wahlprogramm „Hannover überrascht“ zu erläutern. Im Gegenzug fallen Menschen, sobald sie des OBs ansichtig werden, neuerdings in reglose Starre, wie um den Tiraden des aufdringlichen Amtsträgers durch morphologische und mentale Versteinerung zu trotzen. Mit dem Ergebnis, dass die Fußgängerzone Hannovers nicht länger einer Fußgängerzone, sondern einem Johnson’schen Skulpturenpark gleicht oder einer humanoiden Sperrmüllhalde. Ob man diese Art der Innenstadtsanierung mit Beuys als künstlerischen Akt bezeichnen kann, weiß ich nicht. Erkenntnistheoretisch ist es allerdings ein Schritt in die richtige Richtung.
MICHAEL QUASTHOFF
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