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Archiv-Artikel

Spekulation, Vision und Utopie

betr.: „Das wird knapp“ von Reinhard Krause, taz.mag vom 10. 9. 05

Dieser Artikel ist ein Juwel! Er zeigt einerseits auf, wie weite Teile einer ganzen Generation systematisch ihrer Träume und einstmals verbrieften Rechte beraubt wird und ihr kaum noch anderes bleibt, als sich mit dem Abgrund, der ihr entgegengähnt, zu arrangieren.

Andererseits belegt er aber auch, dass jegliche längerfristigen Gesellschaftsentwicklungsmodelle und -prognosen, die aus heutiger Sicht plausibel erscheinen mögen (etwa die von Institutionen und Medien als gegeben angenommene „Überalterung der Bevölkerung“ oder die weitere Aufwärtsentwicklung der Staatsverschuldung) eben nicht mehr sind als Modelle und Prognosen. Planung, ob gesamtgesellschaftlich oder individuell, kann daher sinnvollerweise kaum über einen Horizont von zehn Jahren hinausgehen – alles weitere fällt in die Sparte Spekulation, Vision oder Utopie.

Angesichts dieser Erkenntnis erscheint die Frage der Arbeitsmarktbelebung durch die Förderung öffentlicher Investitionen (also das weithin verschriene Keynes’sche „Deficit Spending“), wie sie derzeit einzig von der Linkspartei vertreten wird, durchaus sinnvoll. Damit ließe sich tatsächlich eine ganze Reihe der Probleme von heute und morgen lösen: der teils desaströse bauliche Zustand und die mangelhafte personelle und finanzielle Ausstattung von Schulen und Universitäten (und damit die viel beschriene Bildungsmisere), die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf durch fehlende oder überteuerte Kinderbetreuungseinrichtungen, die unzureichenden Möglichkeiten der Versorgung und Pflege von älteren Menschen, die mangelhafte Integration von Migrantinnen und Migranten, das Ausweichen von Facharbeitern in Schwarzarbeit, die wirtschaftlichen Probleme von Handwerk und Kleinbetrieben und vieles mehr.

Die Probleme von übermorgen heute schon angehen zu wollen, ist die offizielle Legitimierung für den von Rot-Grün initiierten und nach der Wahl von jeder der wahrscheinlichen Regierungskonstellationen voraussichtlich noch voranzutreibenden Sozialabbau. Damit breiten Bevölkerungsschichten die Gegenwart und nahe Zukunft ohne jegliche rationale Grundlage unnötig zu erschweren, mutet vor dem Hintergrund der oben gezogenen Schlüsse als überflüssig und sogar inhuman an. GABRIELE HELFERT, Frankfurt am Main