Speckgürtel: Hoffnung auf ein Leben nach Winsen/Luhe
Du wirst nach dem Abi sofort wegziehen“, riet in der 13. Klasse mein Lieblingslehrer, und der Satz beschrieb sehr gut, wie ich mich schon lange fühlte.
Das Aufwachsen im Hamburger Speckgürtel erschien mir spätestens am Ende meiner Pubertät ermüdend und einengend. Diese ganzen überflüssigen gesellschaftlichen Zwänge, in die einen die Kleinstadt zwingt, Schützenfeste, Faslam, Dorfpartys, Abipartys in der Stadthalle, auf dem Schützenplatz oder im Dorf-Gasthaus; die ewig gleiche Kulisse mit ein paar bunten Girlanden, einer Bar und dem Holzboden zum Tanzen. Der Geruch von Korn-Cola aus Pappbechern liegt mir heute noch in der Nase.
Winsen/Luhe, das bedeutete, immer sehen und gesehen werden, immer auf dem neusten Stand sein müssen, immer präsent sein müssen, weil du sonst gesellschaftlich untergehst. So furchtbar öde. Ich nahm zwar teil, aber tanzte ständig aus der Reihe und fiel damit unangenehm auf.
Am meisten Aufmerksamkeit bekam ich wohl, als der Schulverweis drohte, nachdem ich eine Kaffeetasse einer Lehrerin durch die Aula warf, die zuvor mein Temperament kritisiert hatte. Der Verweis wurde zu einem Klassenwechsel, meine Mutter rettete mich wie so häufig. Es war wohl meine Art von Rebellion gegen die vermeintliche Kleingeistigkeit meiner Mitschüler und Lehrer.
Sehnsucht nach Anonymität
Mein Bestreben war eben nicht, später den Jungen von nebenan zu heiraten, vier Kinder zu bekommen und in der örtlichen Sparkassenfiliale zu arbeiten, ich wollte irgendwas irgendwo machen, nur nicht in Winsen/Luhe. Jeder kennt jeden, jeder hat über jeden eine Meinung, jeder muss über jeden seine Meinung mitteilen. Ich sehnte mich nach Anonymität statt Schulgossip. Nach Menschen, mit denen ich auf Indie-Festivals fahren könnte und die mich aus Überzeugung auf den Christopher Street Day begleiten würden.
Viel zu lange machte ich bei allem mit, bis mir am Ende der Oberstufe bewusst wurde, wie viel Zeit ich mit Alkohol und dem Drang, ein Teil eines Ganzen zu sein, verschwendet hatte. Am Wochenende meines Abiballs zog ich nach Hamburg.
Es gibt Anlässe, an denen es einfach unumgänglich ist, nach Hause zu fahren. Geburtstage, Einschulungen, Weihnachten. An kaum einem Ort fühle ich mich so unwohl wie dem Winsener Bahnhof, und es ist jedes Mal ein beklemmendes Gefühl, dort auf irgendwas zu warten. „Winsen braucht Hamburg, aber braucht Hamburg Winsen?“, sagte Heinz Strunk mal über meine Heimatstadt.
Die Antwort ist Nein.
Isabel Krämer
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