: Späte Quittung
■ Der Sturz des US-Dollar offenbart die ganze Malaise der amerikanischen Gesellschaft
Späte Quittung Der Sturz des US-Dollar offenbart die ganze Malaise der amerikanischen Gesellschaft
Die härteste Währung der Welt ist weich geworden. Mit 1,43 stürzte der US-Dollar am Freitag auf den Devisenmärkten von New York in ein Tief, über die sich nur noch Amerikas Exporteure die Hände reiben dürften. Seit dem Sommer vergangenen Jahres verlor die US-Devise rund 20 Prozent ihres Wertes; selbst mit den jüngsten, weltweit konzertierten Stützungskäufen haben die Zentralbanken der Industrienationen die Talfahrt der Leitwährung nicht stoppen können. Und wie schon immer bei Kursschwächen, suchen die Amerikaner auch diesmal die Schuld bei anderen: Das hohe Zinsgefälle von sechs Pozent zwischen den USA und Deutschland wirke wie ein Magnet auf das internationale Kapital, das sich immer mehr aus dem Dollar flüchte, war von der Wall Street und aus Washington zu hören.
Daß dies einer der Gründe für den Kurseinbruch sein mag, bestreitet niemand. Doch die Hauptschuld für den Dollar-Rutsch tragen die USA selbst: Die noch immer größte Industrienation der Welt hat jedes Augenmaß verloren, ihr Leben über die Verhältnisse geradezu dramatische Spuren hinterlassen. Eine horrende Außenverschuldung, ein gigantisches Budgetdefizit, sinkende Realeinkommen der Bevölkerung, steigende Armut, eine verheerende Kriminalität — das einstige Imperium zehrt seit Ronald Reagans Zeiten von der Substanz. Über drei Jahre Stagnation und Rezession, die heute deutlicher denn je die gesamten Pobleme der US-Gesellschaft zutage fördern, sind die Quittung jener neoliberalen Reaganomics, mit der der schauspielernde Alt-Präsident die Reichen im Land begünstigte und den US-amerikanischen Hegemonialanspruch erneuerte.
Die USA haben zwar den Kalten Krieg gewonnen, aber den Kampf im eigenen Land längst verloren. Selbst die Erinnerung an den „Sieg“ am Golf ist verblaßt. Und George Bush, der republikanische Wahlkämpfer, wirkt wie Don Quichotte, ein Ritter von trauriger Gestalt, wenn er in rhetorischer Pflichtübung immer wieder von der „liebenswürdigsten und stärksten Nation des Erdballs“ spricht. Daß er auf dem Parteikonvent in Houston die Massenarbeitslosigkeit im Land mit keinem Wort erwähnte und im Fall seiner Wiederwahl Steuersenkungen verkündete, dürfte jedenfalls dem Dollar den Rest gegeben haben. Für ausländische Experten klingt das wie ein Rezept für Katastrophen. Der Präsident unterliegt den alten Verzerrungen und Fehleinschätzungen. Als riesiger Wirtschaftsraum mit einem immensen Nachfragepotential bestimmten die USA lange Zeit den Takt der Weltkonjunktur — doch diese Zeiten scheinen genau so vorbei zu sein wie die Tage des George Bush. Erwin Single
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