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Sozialunternehmerin über Altkleider„Berlin hat ein Textilproblem“

Im Textilhafen der Berliner Stadtmission stranden künftig Tonnen nicht verwertbarer Altkleider. Projektleiterin Ana Lichtwer will damit Häuser dämmen.

Tonnenweise Altkleider landen jede Woche in den Kleidersammlungen – nicht alles ist verwertbar Foto: dpa
Manuela Heim
Interview von Manuela Heim

taz: Frau Lichtwer, Sie sagen, Berlin hat ein gewaltiges Textilproblem.

Ana Lichtwer: Nicht nur Berlin, alle Ballungsräume in Deutschland und Europa. Allein wir von der Berliner Stadtmission bekommen über 10 Tonnen Kleidung pro Woche gespendet. Im vergangenen Jahr kamen insgesamt 882 Tonnen zusammen. Aber nur 10 Prozent der gespendeten Kleidung können wir tatsächlich verwenden.

Warum?

Wir bekommen 80 Prozent Damenbekleidung, 90 Prozent der Empfänger sind aber Männer. Außerdem spenden die Leute oft antizyklisch: Sommersachen im Winter und Wintersachen im Sommer. Die können wir aber nicht lagern, dafür fehlt uns das Geld. Die meisten Leute spenden gute Kleidung. Es kommen aber auch immer wieder verschmutzte Sachen vom letzten Malern oder mottenzerfressene Wollpullis – nach dem Motto, für einen Penner geht das doch noch. Wir geben aber keine kaputte oder schmutzige Kleidung ab und können in der Regel weder reinigen noch reparieren, auch dafür haben wir kein Geld. Und schließlich spenden die Menschen ja schlicht das, was nicht mehr gebraucht wird: die Kleidung vom verstorbenen Schwiegervater zum Beispiel. Das ist aber nicht unbedingt das, was ein Obdachloser, der im Straßenbild nicht auffallen will, anzieht.

Was genau passiert bei der Stadtmission mit der gespendeten Kleidung?

Der Textilhafen

Das Projekt Am 4. Juni 2019 um 10 Uhr eröffnet die Berliner Stadtmission mit dem Textilhafen einen neuen Standort zum nachhaltigen regionalen Umgang mit gespendeten Textilien. Am Eröffnungstag und danach regelmäßig wird es Workshops zum Thema Upcycling geben. Dafür stehen diverse Handarbeitsstationen und ein großer Webstuhl zur Verfügung. Im Textilhafen kann außerdem sehr günstig Kleidung erworben werden. Storkower Straße 139 D (Prenzlauer Berg).

Der Träger Der Textilhafen ist ein Projekt der Komm und Sieh gGmbH. Das Integrationsunternehmen beschäftigt 40 Prozent Menschen mit Schwerbehinderung und betreibt neben dem Textilhafen unter anderem auch vier Second-Hand-Kiezläden. Komm und Sieh ist eine 100-prozentige Tochter der Berliner Stadtmission. (mah)

Mehrere Mitarbeiter sortieren die Sachen: zuerst für die Kleiderkammer. Bei dem, was dafür nicht passt, schauen wir, ob es in den Kiezläden verkauft werden kann. Dann überlegen wir noch, was wir upcyceln, also aufwerten können. Wir haben ein kleines Sortiment entwickelt – eine Tasche, Mütze, Unterhosen, die wir aus gespendeten Stoffen oder Wollpullis nähen. Den größten Teil aber, rund 60 Prozent, können wir bisher nicht verwenden. Früher haben wir mit Fairwertung (bundesweites Netzwerk zur Altkleiderverwertung für soziale Zwecke, d. Red.) zusammengearbeitet, aber denen sortieren wir zu viele der guten Sachen raus. Deshalb müssen auch wir bislang an kommerzielle Verwerter weitergeben, und genau das wollen wir nicht mehr. Dafür gibt es jetzt den Textilhafen.

Dort lösen Sie das Problem der überschüssigen Textilien?

Wir selbst haben keine Lösung für das Textilproblem. Niemand hat die. Die französische Emmaüs-Gemeinschaft hat ausgerechnet, dass in Frankreich auf jeden Obdachlosen 1,4 Tonnen Kleiderspenden pro Jahr kommen. Wer soll das denn tragen? Die Leute spenden die Kleidung und geben damit die Verantwortung ab. Das ist ein Geschenk, aber auch eine Last. Der Textilhafen soll ein Ort sein, an dem wir die gewaltige Menge der Kleiderspenden sichtbar machen und damit auch unseren übermäßigen Konsum.

Das heißt, Sie sortieren live vor Ort?

Im Interview: Ana Lichtwer

53, hat vor 15 Jahren den Berliner Büchertisch gegründet und versteht sich als soziale Unternehmerin. Seit 2015 leitet sie die Komm und Sieh gGmbH, eine Tochter der Berliner Stadtmission.

Genau. Einen Teil der Kleidung, die nicht in die Kleiderkammer kommt, wollen wir für ein Euro das Stück verkaufen, Schuhe und Jacken für drei Euro. Damit wollen wir auch die Menschen ansprechen, die sich nicht in eine Kleiderkammer trauen.

Und was wird aus dem, was so nicht weggeht?

Dafür gibt es das Upcycling Lab, in dem wir zusammen mit Hochschulen, Privatpersonen, Unternehmen und Upcycling-Designern überlegen, was wir mit den Überschüssen, die hier entstehen, regional anfangen können. Da geht es um die Bewahrung der Schöpfung. Oder wenn Ihnen das zu christlich ist: um Nachhaltigkeit. Und um die Frage: Was kann jeder Einzelne, was kann ich tun, um Berlins Textilproblem zu lösen?

Haben Sie schon Ideen?

Eine Menge. Das fängt beim Sammeln an: Ich will wegkommen von den Sammelcontainern. Vorstellbar wäre, dass die Sachen zum Beispiel direkt an Schulen gesammelt und dann in Workshops von den Schülern sortiert und verwertet werden. Das schafft Bewusstsein. Eines meiner Lieblingsthemen ist das Downcycling von nicht mehr verwendbaren Textilien als Dämmmaterial im Baubereich. In Frankreich hat die Emmaüs-Gemeinschaft selbst eine Dämmung aus geflockten Alttextilien entwickelt und zertifiziert. Da sind wir auch dran – „die Berliner Flocke“, das wär’ doch was! Berlin-Souvenire aus Alttextilien sind auch eine Idee. Und ich träume von einem ganzen Kaufhaus, dem „Second-Warehouse Berlin“ – mit Verkauf und eigenen Werkstätten zum Upcycling. Textilien aus Berlin für Berlin.

Große Pläne.

Deshalb fangen wir mit dem Textilhafen jetzt erst einmal an. Die Berliner Stadtmission kann das gewaltige Textilproblem allein nicht lösen. Aber wir bieten einen Ort, an dem wir alle gemeinsam daran arbeiten können.

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