: Sozial? Egal.
von RALPH BOLLMANN
Mythen haben ein langes Leben. Innerhalb wie außerhalb der eigenen Reihen gilt die SPD als die Partei des Sozialstaats. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Die längste Zeit war der Sozialstaat in Deutschland eine Domäne der politischen Rechten. Der Konservative Otto von Bismarck führte die staatliche Sozialversicherung ein, die Nationalsozialisten propagierten eine umfassende Daseinsvorsorge für die „Volksgemeinschaft“, der Christdemokrat Adenauer schuf den Wohlfahrtsstaat. Die SPD durfte entweder zuschauen, oder sie bekämpfte die staatlichen Wohltaten sogar. In den kurzen Zeiträumen, in denen die geborene Oppositionspartei notgedrungen regierte, blieb ihr nur ein undankbarer Job: Sie musste das Geld mühsam wieder einsammeln, das die Konservativen so freigebig verteilt hatten.
1. Der Kampf gegen Bismarcks Sozialgesetze. Niemand bekämpfte die Einführung einer staatlichen Sozialversicherung in den 1880er-Jahren heftiger als die SPD. Als sich das System bewährt hatte, redeten sich die Genossen mit einer allzu simplen Ausrede heraus: Sie hätten das „Zuckerbrot“ des Sozialstaats nur verschmäht, weil der Reichskanzler gleichzeitig die „Peitsche“ des Sozialistengesetzes geschwungen habe. Daran lag es aber nicht allein. Es war auch die Idee einer staatlichen Zwangsversicherung selbst, gegen die sich die Arbeiterpartei wandte.
2. Das Nein zur Krankenkasse. Die Unternehmer sollten sich an den Kosten der Krankenversicherung beteiligen? Wie abwegig! Und der Staat würde ausgerechnet die Arbeiter – im Gegensatz etwa zu Freiberuflern oder Selbstständigen – dazu zwingen, sich bei einer solchen Kasse zu versichern? Von wegen! Mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Eigenverantwortung und Zivilgesellschaft eröffnete der SPD-Abgeordnete Julius Kräcker am 15. Mai 1882 die Reichstagsdebatte über die Krankenversicherung. „Man muss endlich einmal dahin kommen“, befand Kräcker, „den Arbeitern die Führung ihrer Krankenkassengeschäfte selbst zu überlassen.“
3. Die „jämmerliche“ Unfallversicherung. Zwei Jahre später debattierte der Reichstag das zweite Versicherungsgesetz. Und der führende Exponent des rechten Parteiflügels, der bayerische Abgeordnete Georg von Vollmar, zeigte sich dem Kanzler gegenüber keineswegs konzilianter. Seine Partei werde „den vorliegenden Gesetzentwurf energisch bekämpfen“, wetterte er in Richtung Regierungsbank. Noch nie sei ein Unternehmen „jämmerlicher zu Grunde gegangen“ als Bismarcks „Firma der Sozialreform“. Statt Arbeitsunfälle zu entschädigen, solle der Staat lieber vorbeugen – mit strikten Schutzbestimmungen.
4. Rente? Nein danke! Am Nikolaustag des Jahres 1888 brachte Bismarck die Rentenversicherungs vors Parlament, doch die SPD wollte auch von diesem Geschenk nichts wissen. Es gebe „weit wichtigere Akte auf dem Gebiet der sozialen Gesetzgebung“ als ausgerechnet „eine Alters- und Invaliditätsversorgung“, dozierte SPD-Debattenredner Karl Grillenberger – was ihn nicht davon abhielt, stundenlang zu sprechen. Seiner Partei sei es am liebsten, wenn das Gesetz „von vornherein abgelehnt würde“. Und wenn sich der Reichskanzler von seinem unsinnigen Vorhaben partout nicht abhalten lasse, dann müsse der Fiskus „viel mehr leisten, als gegenwärtig projektiert wird“: ein klares Plädoyer für die steuerfinanzierte Rente.
5. Der ewige Glaube an den Staat. So revolutionär die Parolen der alten Sozialdemokratie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auch klangen, in der Praxis zeigten sich die Genossen überaus staatstreu – allen voran das Parteizentrum um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann. Am Ende waren sie sogar bereit, für diesen Staat auch in den Krieg zu ziehen. Einen weitaus kritischeren Blick auf die fürsorglichen Preußenherrscher hatten die Exponenten des äußersten linken und rechten Parteiflügels, die sich später auch als Kriegsgegner erweisen sollten – nicht allein Revolutionäre wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht, sondern auch Rechtsabweichler wie Eduard Bernstein. Er urteilte über die allzu große Staatsgläubigkeit seiner doktrinären Parteifreunde: „Man braucht wirklich kein Anarchist zu sein, um die ewigen Anweisungen auf den Staat des Guten zu viel zu finden.“
6. Das Debakel mit den Arbeitslosen. Wenig Glück hatte die SPD mit den sozialen Reformen, die sie während der Weimarer Republik durchsetzen konnte. Zwar gelang es 1927, eine staatliche Unterstützung für Arbeitslose einzuführen. Doch zwei Jahre später brach die Wirtschaftskrise aus, das neue System drohte zu kollabieren. Die SPD rief nach höheren Beiträgen, der wirtschaftsnahe Koalitionspartner DVP nach niedrigeren Leistungen, über den Streit stürzte 1930 die letzte parlamentarisch gewählte Regierung der Weimarer Republik. Dass die Arbeitslosen in den Folgejahren weit stärkere Kürzungen hinnehmen mussten, konnte die SPD damit nicht verhindern. Dafür musste sie sich fortan den Vorwurf machen, „im entscheidenden Moment nicht alles getan zu haben, um die parlamentarische Demokratie zu bewahren“, urteilt der Berliner Historiker Heinrich August Winkler.
7. Der Zwist mit der Gewerkschaft. Der DGB wird im Jahr 2003 „verteufelt wie weiland in der Sterbephase der Weimarer Republik“, glaubt Spitzenfunktionär Michael Sommer. Er sollte bedenken: Am Sterben dieser Republik waren die Gewerkschaften nicht ganz unbeteiligt. Immer deutlicher gingen sie in den frühen Dreißigern auf Distanz zur SPD. Am Ende stand ein Kurs, der „von opportunistischer Anbiederung“ an die Nationalsozialisten „kaum noch zu unterscheiden“ war, so der Historiker Winkler. Geradezu euphorisch begrüßte der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund die Entscheidung der Hitler-Regierung, den 1. Mai zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ zu erklären. Es half nichts: Einen Tag nach den Feierlichkeiten nahmen die Nazis führende Gewerkschafter in „Schutzhaft“.
8. Adenauers Massenbestechung. In der Nachkriegszeit war es wiederum ein Konservativer, der zur Methode der „kollektiven Massenbestechung“ griff. So hatte der Historiker Hans Rosenberg die Bismarck’sche Sozialversicherung charakterisiert. Konrad Adenauer umschrieb es – etwas vornehmer – als „bruttobezogene dynamische Rente“. Durften die Versicherungsanstalten zuvor nur so viel Geld auszahlen, wie sie an Beiträgen einnahmen, so wurden die Rentenerhöhungen jetzt an den sehr viel rascheren Anstieg der Bruttolöhne gekoppelt. Die Rechnung konnte langfristig nicht aufgehen, aber „die bürgerliche Demokratie hatte ihre Fähigkeit zur großzügigen Sozialreform bewiesen“, wie Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz rühmte. Acht Monate später holte der CDU-Kanzler die absolute Mehrheit.
9. Der Rentenbetrug. Als die SPD in den Siebzigern endlich wieder regierte, stand bereits der Abbau des Sozialstaats auf der Tagesordnung. Zwar versprach Kanzler Helmut Schmidt im Wahlkampf 1976, der Adenauer’schen Rentenformel treu zu bleiben und die Altersbezüge zum 1. Juli 1977 um stolze 9,9 Prozent anzuheben. Zwei Jahre später wurde der Rentenanstieg allerdings auf 4,5 Prozent begrenzt und erstmals ein Beitrag zur Krankenkasse abgezogen, obendrein erhöhte Schmidt auch noch die Beiträge – und inspirierte die Opposition zu einer Wortschöpfung: „Rentenbetrug“.
10. Die Rente ist sicher. Von unpopulären Einschnitten wollten Schmidts Nachfolger Helmut Kohl und dessen Sozialminister Norbert Blüm nichts mehr wissen. Sie waren ja keine Sozialdemokraten. „Die Rente ist sicher“, verkündete Blüm 16 Jahre lang frohgemut – und dehnte die westdeutsche Sozialversicherung im Herbst 1990 kurzerhand auf den Osten des Landes aus. Den neuen Ausgaben standen keine Einnahmen in gleicher Höhe gegenüber? Egal, schließlich hatten Kohl und Blüm von Adenauer gelernt. Was 1957 funktioniert hatte, klappte auch bei der Wahl im Dezember 1990.
Und heute? Wie 1930 oder 1976 stehen wieder Kürzungen an, kaum dass eine SPD-Regierung an der Macht ist. Dass die Partei an ihrem 140. Geburtstag nicht so recht feiern kann, sollte die Genossen deshalb nicht erstaunen – gerade jene nicht, die sich sonst so viel auf ihre Traditionen einbilden.