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Souverän und ausgewogen

aus KarlsruheCHRISTIAN RATH

Ein Verfassungsgericht ist ziemlich undemokratisch, könnte man meinen. Schließlich können die RichterInnen Gesetze beanstanden, die von der direkt gewählten Volksvertretung, dem Bundestag, mit Mehrheit beschlossen wurden. Zugleich sind die VerfassungsrichterInnen weder vom Volk gewählt, noch schulden sie ihm Verantwortung.

Ihr einziger Maßstab ist die Verfassung, in Deutschland also das Grundgesetz. Doch bei dessen Auslegung hat das Bundesverfassungsgericht große Freiheiten – nicht nur weil die Aussagen und Garantien des Grundgesetzes oft ziemlich vage sind. Oft sind Eingriffe in Grundrechte dann erlaubt, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage ergehen. Ob ein Gesetz aber die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahrt, muss letztlich Karlsruhe entscheiden, und das ist eine reine Abwägungsfrage.

Häufig wird daher dem Verfassungsgericht vorgeworfen, es verhalte sich wie ein Ober-Gesetzgeber. Man könnte auch sagen: wie ein Verfassungsgeber. Denn bei Bedarf können die RichterInnen einfach ein neues Grundrecht oder einen neuen Verfassungswert „erfinden“, etwa das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, mit dem 1984 die damalige Volkszählung gestoppt wurde.

Auch finanzielle Rücksichten müssen die Verfassungsrichter nicht nehmen. Wenn Entscheidungen Milliardenkosten verursachen, wie etwa die massive Ausweitung kinderbezogener Steuerfreiträge 1998, dann muss der Bundestag die Folgen tragen.

Immer wieder flackert allerdings Widerstand gegen das selbstbewusste Gericht auf. Etwa 1961, als die VerfassungsrichterInnen Adenauers Plan für ein bundeseigenes Fernsehprogramm stoppten. „Das Kabinett war sich darin einig, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist“, verkündete der Kanzler später trotzig im Bundestag. Am Ende fügte er sich dem Richterspruch.

In den 70er-Jahren protestierte vor allem die Linke, weil Karlsruhe mehrere Reformvorhaben – die paritätische Besetzung von Hochschulgremien sowie die Erleichterung von Abtreibung und Kriegsdienstverweigerung – gestoppt hatte. 1975 gab es sogar einen Bombenanschlag auf das Gerichtsgebäude im Karlsruher Schlossbezirk, nachdem die Fristenregelung bei Abtreibungen gekippt worden war.

Rund zwanzig Jahre später waren dann wieder die Konservativen empört. Zuvor hatte das Verfassungsgericht eine Serie liberaler Urteile – zu straffreien Sitzblockaden, zum „Soldaten sind Mörder“-Spruch und zu bayerischen Schulkruzifixen – verkündet. Gegen das Kruzifixurteil wurden 256.000 Unterschriften gesammelt; in München demonstrierten 25.000 Menschen – aufgerufen hatte Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) und die katholische Kirche.

Inzwischen ist das Bundesverfassungsgericht wieder eine der beliebtesten Institutionen in Deutschland. Die Konservativen waren besänftigt, nachdem die Richterinnen 1996 die weitgehende Abschaffung des Grundrechts auf Asyl akzeptiert hatten. Auch der linke Unmut Ende der 70er-Jahre endete mit einem konzilianten Karlsruher Urteil. Damals billigte das Gericht überraschend deutlich die Ausweitung der Mitbestimmung, eine Klage der Arbeitgeberverbände wurde abgewiesen. Das Ansehen des Gerichts lebt also nicht zuletzt vom Nimbus der Unberechenbarkeit und der Neutralität.

Diese Überparteilichkeit spiegelt sich auch bei der Richterwahl wieder, wo eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. So sind die großen Parteien zu Absprachen gezwungen, allzu ideologische ParteigängerInnen haben deshalb keine Chance, nach Karlsruhe zu kommen. Und nach der Wahl ans Gericht steht bei den Gewählten ohnehin der wissenschaftliche Diskurs im Vordergrund. Schließlich will sich kein Verfassungsrichter vorwerfen lassen, er beherrsche das juristische Handwerkszeug nicht. Wenn es dennoch gelegentlich bei der Abstimmung zur Blockbildung kommt, hat das weitaus mehr etwas mit unterschiedlichen Weltanschauuungen zu tun als mit politischer Fraktionierung.

Oft allerdings gelingt den RichterInnen der Kompromiss schon innerhalb eines Urteils. Als Karlsruhe 1994 weltweite Bundeswehreinsätze zuließ, verlangte das Gericht, dass zuvor jeweils die Zustimmung des Bundestags eingeholt wird. Und auch sonst ist das Instrumentarium des Verfassungsgerichts flexibel. Statt ein Gesetz zu kassieren, genügt oft die verfassungskonforme Interpretation. Statt eine Regelung rückwirkend aufzuheben, wird dem Bundestag eine großzügige Übergangsfrist gewährt. So steuert das Gericht und muss sich um die Akzeptanz seiner Entscheidungen doch kaum Sorgen machen.

Letztlich gibt es ohnehin wenig Alternativen zu einem Verfassungsgericht, wenn man die Auslegung des Grundgesetzes nicht ohne weiteres der politischen Mehrheit überlassen will. Gerade der Schutz für missliebige oder organisationsschwache Minderheiten ist bei einem souverän agierenden Gericht am besten aufgehoben. Zugleich gewinnt aber auch der politische Diskurs, wenn schon im Gesetzgebungsverfahren mit Blick auf Karlsruhe Grundwertefragen gründlich diskutiert werden.

Letztlich ist also ein Demokratie mit vielen „checks and balances“ – und das Bundesverfassungsgericht hat hier neben den Bundesrat eine zentrale Funktion – einer schmeidigen Parlamentssouveränität vorzuziehen.

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