■ Nachschlag: Souverän erzählt: Thomas Brasch las in der Brotfabrik aus "Tante Grazie"
„Tante Grazie oder Der lange Weg nach Schönhausen“, so lautet der Arbeitstitel des Romans, aus dem Peter Brasch am Sonnabend in der Brotfabrik in Weißensee vorab ein paar Kapitel vorstellte. Der 1955 geborene Brasch ist ein literarisches Multitalent. Er hat sich nicht nur als Dramatiker und Regisseur einen Namen gemacht, sondern ebenso als Lyriker und Übersetzer. Was hat es nun mit „Tante Grazie“ auf sich?
Die Geschichte beginnt mit einem Pfingstwunder zur falschen Jahreszeit. Gianluca, Kirchturmglöckner in einem sizilianischen Dorf, hat im November 1995 seine Arbeit wegen plötzlich auftretender Höhenangst verloren. Zur gleichen Zeit geschehen noch andere merkwürdige Dinge im Dorf: Eine Frau, die kaum Fisch gegessen hatte, und doch an einer Gräte erstickt sein soll, liegt mit einem Loch in der Stirn im Sarg. Ihre Familie stammt aus dem Süden. Um deutlicher zu werden: Die Mafia hatte die Finger im Spiel. Sind wir in einen Krimi geraten, vielleicht in ein Werk jener Gattung, dessen Handlung verwegen durch verschiedene Länder des Alten Kontinents streunt, in einen sogenannten „Eurokrimi“?
Nichts von alledem. Der Autor hat eine falsche Fährte gelegt, denn im weiteren Verlauf geht die Geschichte ins Phantastische über. Gianluca steigt ein letztes Mal die Treppe zum Kirchturm hinauf und hält eine Taube in der Hand – Tante Grazie. Während die beiden aufsteigen, beginnt die Taube zu sprechen. Auf dem Turm angekommen, zieht eine dunkle Wolke über die Kirche hinweg, und der Heilige Geist gießt seine Weisheit über Gianluca und die Taube aus. Aus der Taube wird das Rotkehlchen, das fortan auf den Namen Georgina hört. Der Beginn des Romans gehört zu den ästhetisch reizvollsten Passagen des Textes. Im Wechsel von mikroskopischer Nahaufnahme und dem Blick ins Weite fängt Brasch mit erzählerischer Souveränität den Raum und die Stimmung der Geschichte ein. Italien bleibt nicht länger Schauplatz des Romans. Das polyglotte Paar, begnadet mit allen Sprachen der Völker, macht sich auf nach Deutschland und gelangt auf Umwegen nach Berlin.
Hier treffen die beiden auf den heulenden Theatermann Franz Cassendörfer, dem sie vorschlagen, seine Bühne in ein Schwimmbad umzuwandeln. Franz Cassendörfer findet Geschmack an dem Gedanken, den er sofort zur Idee vom „Schwimm- und Springtheater ausbaut: „Hamlet als Unterwasserdrama, Faust als Bademeister, Ophelia als Selbstmörderin vom 20-Meter-Turm“. Kein ausgeklügeltes Script, sondern die Lust an Parodie und Wortwitz treibt die Handlung in diesem Roman voran.
Von allen Absurditäten, die in der Geschichte noch vorkommen, sei eine letzte erzählt. Ort der Handlung ist ein irisches Spezialitätengeschäft am Prenzlauer Berg. Im Hinterzimmer diskutieren Gianluca und die Ladenbesitzerin über den Zusammenhang von Klima und Vokalarmut in der gälischen Sprache. Um Vokale bilden zu können, so die einleuchtende These des Italieners, müsse man den Mund aufmachen – bei der kalten Luft im Norden eben kein Vergnügen. Daher kämen die Eskimos in ihrer Sprache ganz ohne Vokale aus. Angesichts gleichbleibend eisiger Temperaturen bleibt den künftigen Lesern des Romans zu wünschen: V'll Sp'ß.
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