Zwischen den Rillen: Sound im Traktormotor
■ Zu Hause, im Club: Techno für die Stunden nach der Disco
Viele, die sich zu den Raves und Clubs hingezogen fühlen, sich dort aufgrund ihres Alters oder ihrer Sozialisation aber deplaziert vorkommen, stürzen sich erleichtert auf die ausdrücklich fürs Zu-Hause-Hören gemachten Techno-Platten. Zum Teil sind es die Dancefloor-Produktionen, denen ein ästhetischer Mehrwert über die Tanzbarkeit hinaus bis hinein in die Wohnzimmer zugesprochen wird, zum Teil die etwas hilflos „Intelligent Techno“ oder einfach „Electronic Music“ genannten Sound-Experimente. Aber zum Glück fallen diese Einteilungen nicht so trennscharf aus: Der Heimhörer empfindet sein isoliertes Interesse für die Variationen der elektronischen Tanzmusik ohne Tanz auch mal als hohl (wenn er sich nicht gerade deshalb für etwas Besseres hält) – und was heute noch als „Intelligent Techno“ galt, ist morgen auch nicht dümmer, wenn dazu getanzt wird.
Der Engländer Cristian Vogel hat sich letztes Jahr mit seiner CD „Beginning to Understand“ nachhaltig als Experimentator an den Genregrenzen empfohlen. Zwischen den Störgeräuschen und rhythmischen Haken blitzte dabei selten, dann aber gerade um so deutlicher eine umwerfende Funkyness auf, die lebendige Skizze einer anderen Körperlichkeit. Kein selbstzufriedener Künstlerdünkel, der Vogel vom Dancefloor distanziert hätte. Er bleibt dann auch den Beweis nicht schuldig, daß er sich der Funktionalität des Tracks im Dienste des DJ-Mixes unterzuordnen bereit ist: seine neue Doppel-Maxi bzw. CD ist „konventioneller“, sie zielt nachdrücklich auf den Club und unterbricht nie den fortlaufenden Beat. Der limitierte Umgang mit den sich gegenseitig hochschaukelnden Sequenzern und sparsamen Keyboard-Figuren, die sich um einen straighten Bassdrum- Schlag organisieren, ist nicht einfach nur eine Fingerübung. Er repräsentiert eine andere Sprache, die weniger „Ausdruck“ eines Sound-Bildhauers ist als variabel gehaltene Fläche, die sich weitgehend zurücknimmt zugunsten des „Ausdrucks“ des DJs und des Tanzens, dessen Dynamik dieser bestimmt. Nach der Kür die Pflicht: Vogel beherrscht beides, auch taktisch. War sein Debüt bei dem experimentell orientierten Label Milles Plateaux erschienen, so kommt „Absolute Time“ bei Tresor heraus – dort, wo die Detroiter Techno-Größen Jeff Mills und Robert Hood minimalistischen Dancefloor veröffentlichen. Und Vogel wird es sich nicht nehmen lassen, in Zukunft für beide Labels, für beide Welten zu produzieren.
Mark van Hoen alias „Locust“, ebenfalls aus England, ist einer jener „Soundtüftler“, die regelmäßig mit Begriffen wie „Magier“ oder „Sound-Wizzard“ belegt werden. Nicht weit ist da die Unterscheidung zwischen Kunsthandwerk und Kunst, die vor dem Hintergrund des Dualismus Tanzfläche/zu Hause auch nicht attraktiver wird. Locust läßt keinen Zweifel daran, daß seine Musik sich allenfalls an den Rändern der Tanzfläche, den Chill-out-, den „Ausruh“-Zonen nähren kann. Wobei man sich zu diesen dann doch ziemlich aufwühlenden Sound-Ungetümen, die unvermittelt zwischen kratzender Industrial-Massivität und einer fast bedrohlich leichten Perkussivität chargieren, wohl nicht gerade ausruhen will. Locust pflügt sich durch tiefe Lehmerde von Beats, die in schweren Brocken nach rechts und links wegfliegen. Dann wechselt er in eine andere Räumlichkeit, als würde nun ein Forscherteam die Millionstel Sekunde der Zündung im Traktormotor isolieren und immer wieder, unendlich verlangsamt anschauen, um die entscheidende Logik zu finden. Locust kontrastiert dieses Assoziationsfeld mit Titelgebungen wie „The love you cruelly gave me could not last“, deren Bedeutung durch die Musik nicht eindeutig wird: Ist es die Zeile aus dem Tagebuch eines pubertierenden Mädchens oder der letzte Gedanke eines alten Menschenfeindes?
Daß diese Eindeutigkeiten sich im Techno – jenseits seiner puren Radio-/Fernseh-Verwertung – nicht herstellen, ist einer seiner größten Vorzüge. Geht es bei Tanzmusik um das Suchen nach einem Körperlichwerden, einer ekstatischen Selbstentäußerung, dann ist in den besten Momenten ein Stück keine Aufforderung zum Suchen, sondern ein Lageplan, der das Suchen erst ermöglicht. Der Drumbeat und der Sequenzer in ihrer Serialität arbeiten eine Grundstruktur heraus, indem sie nebeneinanderher laufen und dabei zwischen Synchronizität und Verschiebung schwanken. Je nach dem, wie das geschieht, entsteht entweder eine mitunter enervierende Stumpfheit oder es schlägt Funk und Funken. Und das entscheidet sich durch kleinste Veränderungen – im rhythmischen Detail sitzt der Teufel: Der heißt Carl Craig und ist einer der zweiten Generation der Detroiter Techno-House-Schule. Nach den Pionieren Juan Atkins und Derrick May ist er einer derjenigen, die weniger die puristische Frage nach der reinen Logik von Beat und Sequenz stellen, als vielmehr alle rhythmischen Verführungskünste einsetzen. Im Spektrum zwischen synkopierten Beats und dem geraden Schuß sind die Sounds auf seiner unter dem Projektnamen „Six Nine“ veröffentlichten Platte immer sehr nah, geradezu trocken am Ohr heftend – mit wenig Hall, allenfalls in ein Echo sich verflüchtigend. Dagegen war sein erst vor wenigen Monaten erschienenes Werk „Landcruising“ (unter dem Namen Carl Craig veröffentlicht) eine sphärische Breitwand-Inszenierung, voller geradezu nostalgischer Reminiszenzen an den Elektrofunk der frühen Achtziger. Aber gerade in der unvermittelten Nähe offenbart sich dann bei „Six Nine“ eine berührende Entrücktheit. Jörg Heiser
Cristian Vogel: Absolute Time (Tresor/RecRec)
Locust: Truth is Born of Arguments (R&S/RecRec)
Six Nine: The Sound of Music (R&S/RecRec)
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