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Sonnenaufgang in Stirnhöhe

Abel Xavier war das Gesicht der EM 2000 – dann stürzte seine ganze Karriere ins Chaos durch einen Handelfmeter im Halbfinale, folgende Tumulte und die Sperre durch den Kontinentalverband Uefa

aus Liverpool RONALD RENG

Es ist 13 Uhr auf dem Trainingsgelände des FC Everton und der ernste Teil des Arbeitstages schon vorüber. Verteidiger Michael Ball reist Torwart Paul Gerrard das Handtuch von den Hüften, als der auf dem Weg aus der Dusche gerade an der Putzfrau vorbei geht. Paul Gascoigne, der prominente Neuzugang des englischen Erstligisten, ruft einem Küchenmädchen entgegen: „Mary!“ – Ja? – „Weißt du die Mannschaftsaufstellung?“ – Mary lächelt, Gascoigne lacht. Aus der Rezeption meldet sich Abel Xavier. „Was ist das mit euch Deutschen?“ Er wedelt mit einem Stapel Briefe. „Ständige bekomme ich Fanpost aus Deutschland. Es ist fantastisch, aber wieso?“

Wieso? Er bräuchte nur einmal in den Spiegel zu schauen. Luis Figo und Zinedine Zidane waren die Stars, aber Abel Xavier war das Gesicht der EM 2000. Die himmelwärts stehenden Haare und den Bart blond gefärbt, war der portugiesische Außenverteidiger von Anfang an schwer zu übersehen. Unvergesslich wurde sein Gesicht in der Nacht des 28. Juni. Die Augen weit aufgerissen, stand Xavier vor dem österreichischen Schiedsrichter Günter Benkö und protestierte gegen den Elfmeter, den Zidane zum entscheidenden 2:1 für Frankreich im Halbfinale gegen Portugal verwandelte. Benkö hatte ein Handspiel Xaviers geahndet, technisch war das Urteil vertretbar, menschlich war es grausam. Nachts bis halb zwei stand Xavier im Stadion, Reden war seine Therapie: Jedem Mikrofon, jedem Notizblock klagte er sein Leid – und heute, zwei Monate später, kämpft er noch immer gegen die Ungerechtigkeit der Welt.

Im Restaurant „Est Est Est“ im alten Liverpooler Hafen bestellt Xavier nach dem Training eine Portion Fusilli mit gegrilltem Huhn, „extra groß, ich habe Hunger“, aber dann rührt er sie kaum an. Denn als die Nudeln kommen, redet er schon, und nichts hält ihn mehr auf. Das Handspiel war nur der Anfang des Unglücks. Nun hat ihn der Europäische Fußballverband (Uefa) auch noch bis April für alle internationalen Spiele gesperrt; Xavier habe die wüsten Proteste der Portugiesen gegen Benkö nach Frankreichs Siegestor angeführt, heißt es in der Begründung. Die Strafe ist außerordentlich hoch, selbst Frankreichs damaliger Kapitän Eric Cantona kam 1995 mit sieben Monaten Spielverbot davon, als er einen Zuschauer per Kung-Fu-Tritt anging.

„Neun Monate! Für was? Ich war nicht gedopt, ich habe niemanden umgebracht.“ Xaviers Augen haben wieder diesen zornigen Blick: „Ich akzeptiere, dass es sich nicht gehört, wie wir den Schiedsrichter bedrängten. Aber ich habe nichts anderes gemacht als zwanzig andere portugiesische Spieler. Nichts anderes, als jedes Jahr hunderte Profis nach einem Elfmeterpfiff tun. An mir wurde ein Exempel statuiert.“

Der Verdacht, hier müsse einer als Sündenbock herhalten, ist nicht so unbegründet. Bis zu 15 Portugiesen, Spieler und Betreuer, bedrängten Benkö minutenlang; dass die Uefa Konsequenzen aus dem Gerangel ziehen musste, ist verständlich, warum es Xavier traf, nicht. In Großaufnahme belegen Fernsehbilder die Tätlichkeiten von Nuno Gomes und Paulo Bento, den anderen zwei mit Sperren bestraften Spielern. Dagegen war weder im Stadion noch auf Video erkennbar, was Xavier dem Österreicher angetan haben soll. Benkö gab zu Protokoll, der Verteidiger habe ihm eine „drei Zentimeter lange Prellung an der Schulter“ zugefügt. Das sei nur möglich, wenn Blicke verletzen könnten, verteidigt sich Abel Xavier. „Es wäre verrückt, aber vielleicht haben sie mich für meine Haare bestraft: So viele Spieler um den Schiedsrichter herum, und da ist der Schwarze mit dem blonden Haar, den merkt man sich. Andere Spieler wie Figo sind zu groß, um sie zu sperren.“

Er werde so oft Einspruch einlegen, zu so vielen Gerichten gehen, wie er nur könne, sagt Xavier. Aber verloren hat er schon: Nach der EM gingen Anfragen von führenden Klubs wie AS Rom und PSV Eindhoven ein. Als bekannt wurde, dass Xavier für neun Monate nicht im Europapokal eingesetzt werden darf, zogen sie sich zurück. Unterdessen hat der FC Everton mit dem Franzosen Alex Nyarko bereits Xaviers Nachfolger eingestellt. „Als die Angebote kamen, gab Everton sein Einverständnis, ich könne gehen.“ Als Xavier Ende Juli wohl oder übel zu dem Liverpooler Stadtteilverein zurückkehrte, waren seine Trikotnummer 19 sowie sein Spind an andere weitergegeben.

Nun will ihn Everton unbedingt verkaufen, weil sie die sieben Millionen Mark, die sie sich von dem Transfer erhofften, bereits ausgegeben haben. Xavier will nur zu einem besseren Klub wechseln. Aber die guten Vereine wollen für so viel Geld keinen Spieler, der bis April nicht im Europacup einsetzbar ist.

Könnte unter den vielen Briefen aus Deutschland nicht mal einer von Bayern München sein, fragt Abel Xavier. Es ist Abend geworden, er hat seine halbe Lebensgeschichte erzählt, angefangen, wie er als Dreijähriger mit seinen Eltern aus Mosambik nach Lissabon floh, bis zu seinem Alltag in Liverpool. „Regen, Regen, immer Regen hier“, sagt er und dann: „Manchmal wenn alles zu frustrierend wird, schaue ich in den Spiegel und sehe die Sonne: meine blonden Haare.“

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