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Solidarnosc waghalsig

■ Die polnische Opposition vor der politischen Verantwortung

Mit seinem Vorschlag, Solidarnosc solle die Wahl des Kandidaten der vereinigten Arbeiterpartei zum Präsidenten unterstützen, und im Gegenzug solle ihr die Bildung der Regierung übertragen werden, hat Adam Michnik ein äußerst waghalsiges Manöver eingeleitet. Drückende Versorgungsmängel bei Grundnahrungsmitteln und eine Inflationsrate, die sich den 100 Prozent nähert, machen eine neue Streikwelle wahrscheinlich. Solidarnosc hat zur Stunde erst 1,5 Millionen Mitglieder. Wie soll die Gewerkschaft die Zerreißprobe überstehen, einerseits die elementaren Lebensinteressen der Bevölkerung verteidigen zu müssen, andererseits über ihr Bürgerkomitee eine Regierung zu stellen, die für die Verschlechterung der Lebenslage verantwortlich gemacht werden wird? Die Bürgerkomitees haben noch nicht genug Selbständigkeit gegenüber der Gewerkschaft gewonnen, um Solidarnosc zu „entlasten“ und eine unabhängige Politik treiben zu können.

Für Michniks Vorschlag der Cohabitation sprechen vor allem drei Gründe: - Eine von Solidarnosc gestellte Regierung hätte eine starke Verhandlungsposition gegenüber westlichen öffentlichen wie privaten potentiellen Kreditgebern. Sie könnte eine rationelle Verwendung der Kredite und Hilfen garantieren. - Sie könnte versuchen, den Staatshaushalt zu konsolidieren und die Inflation einzudämmen. - Sie könnte die Demokratisierungsprozesse in den Institutionen und den Betrieben vorantreiben, die Beziehungsnetze der Machtcliquen in den Bezirken und Städten zerreißen und weitere Teile der Nomenklatura entmachten. Der Staatspräsident - sei es Kiszczak oder doch noch Jaruselski

-müßte als Garant der Bündnisse fungieren, er könnte die Politik einer Solidarnosc-Regierung „nach Osten“ absichern.

Michniks Initiative folgt logisch auf das von ihm propagierte Projekt eines Marshall-Plans für Polen. Wären aber mit der Regierungsübernahme von Solidarnosc tatsächlich die Voraussetzungen dafür gegeben, daß eine Neuauflage des Marshall-Plans greifen würde? Zieht man die Situation Westdeutschlands 1948 zum Vergleich heran, muß man die Frage glatt verneinen. Michniks Vorstoß muß nicht nur mit den Ängsten vieler Solidarnosc-Aktivisten und der Furcht großer Teile der Nomenklatura vor dem Machtverlust rechnen. Es könnte auch sein, daß die Botschafter einer Solidarnosc -Regierung vergeblich an die Türen westlicher Regierungen und Banken klopfen werden.

Christian Semler K O M M E N T A R E

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