: Solidarität mit Mauritius
Savoir-vivre im kargen Ambiente der Gruga-Halle: Erstmals fanden die Pétanque-Weltmeisterschaften in Deutschland statt ■ Aus Essen Bernd Müllender
Sportlich, sagten alle, war die Sache schon vorher klar. Wie immer. Gewinnen werde eines der drei französischen Trios gegen ein anderes französisches. Hatte nicht Philippe Quintais, der Titelverteidiger und derzeit wohl weltbeste Spieler kugelweit, gesagt, bei guten französischen Turnieren sei die Leistungsdichte oft höher als bei einer WM? Als höchstes Sportglück für die Restwelt galt das Halbfinale. Belgien vielleicht? Algerien? Marokko? Oder die starken Luxemburger? Andorra gar? Monaco? Wo immer in der Welt die Franzosen einst ihre imperialistischen Finger im Spiel hatten, hinterließen sie als kulturelle Dreingabe die Würfe mit den Eisenkugeln.
So dominieren die Szenerie hinter der Grande Nation des boules und ihrer Nachbarländer Teams aus Nordafrika oder auch Madagaskar. Weltmeisterschaften gibt es seit den 60er Jahren. Die 32. WM am Wochenende war die erste in Deutschland. 71 Teams aus 39 Nationen waren gekommen, um besondere Nähe zu suchen zum „Schweinchen“ (der kleinen hölzernen Zielkugel), zum Werfen, Legen und Schießen mit den stählernen Dreiviertelpfündern. Allez les boules – in der Gruga-Halle!
Die 14 Spielbahnen nebeneinander waren, mit perfekt ungleichmäßig verteilten Bodenanteilen aus Lehm und Kiessteinchen, den typischen kleinen Zufälligkeiten südfranzösischer Provinzplätze grandios nachempfunden. Ästhetisch aber trafen sich zwei Welten. Die provenzalische Atmosphäre des Savoir-vivre mit mediterranem Flair in die kalte Nüchternheit einer deutschen Nachkriegssporthalle zu zaubern, wäre selbst den bombastischsten Hollywood-Requisiteuren schwergefallen. Immerhin waren Tribünenschnack und Lautsprecherdurchsagen fast ausschließlich in Französisch, und so machte man am besten die Augen zu und träumte sich beim kakophonen Klang der Klacks und Klocks von gleichzeitig dutzendweise umhersausenden Kugeln eine hübsche Szenerie zusammen von südfranzösischen Dorfplätzen unter mächtigen Kastanien bei urlaubshafter Abendwärme, den Geschmack von Pastis im Mund, gesäumt vom Zirpen der Zikaden.
Klack, wusch! Wenn Champion Philippe Quintais (28) zum Schuß ansetzte, war Schluß mit dem Ambiente angespannter Lässigkeit im Publikum. Ehrfürchtiges Raunen, Salven von Applaus. Eine Trefferquote beim Schießen von gut 80 Prozent ist Durchschnitt, Spitzenkräfte wie Quintais schaffen über 90. Freitag abend aber zielte der rundbäuchige wie elegante Monsieur mehrfach schlecht, und prompt gab es die erste Überraschung: Sein Trio im Regenbogentrikot verlor gegen Algerien 11:13.
Profis gibt es (noch) nicht. Dennoch ist Pétanque für die Weltbesten durchaus Leistungssport. Trainiert wird täglich. Doch zum Lebensunterhalt reicht es selbst für die Stars der Szene auch mit Werbung und Sponsoren kaum. Preisgelder sind höchstens vierstellig, die Reisekosten nur für Enthusiasten eigenverträglich – so war etwa das neuseeländische Team schon froh, von Air New Zealand wenigstens den weiten Flug teilgesponsert zu bekommen.
Auch hierzulande ist Pétanque in kräftigem Aufwind. Stolz berichtet der Verband, man habe im Deutschen Sportbund die höchsten Zuwachsraten aller Verbände: gut 20 Prozent Plus pro Jahr. An die 100.000 Pétanqueure spielen heute, vor 20 Jahren waren es keine tausend. Zur Weltspitze ist es trotz des gallischen Hahns im deutschen Verbandswappen noch weit. Noch nie war bislang ein deutsches Team unter die besten 16 gekommen. Auch in Essen scheiterten zwei Trios in der Vorrunde, eines davon an der großen Sportnation der Seychellen. Team Allemagne 2 aber (Azubi Christian Hempel, Consulter Tino Capin, beide Darmstadt, dazu der Grafikdesigner Klaus Mohr aus Hamburg) überstand premierös die erste Runde und qualifizierte sich dann sogar durch Losglück und tolle Würfe gegen Kanada und die Briten sensationell für das Viertelfinale. Da brausten bisweilen Jubelstürme auf, als hätten die Handballer vom Tusem gerade das entscheidende Tor im Europapokal geworfen. Am Ende wurden sie bei 10 Siegen in 13 Spielen sogar Fünfter durch einen 13:11-Sieg gegen Marokko.
Die gutgefüllte Halle bebte. „Ein absoluter Knaller“ jauchzten die Offiziellen – wenn Mauretanien Fußballweltmeister würde, sei das nicht überraschender. Sportbürokratisch hat das deutsche Entwicklungsland durchaus schon Niveau: Es gibt Ranglisten aller Art, Masters und Meisterschaften, Debatten um Sponsoren, disziplintypische Sportverletzungen (Zehenbrüche), leibhaftige Verbandsfürsten, Querelen bei Weltverbandstagungen und veritable Kräche mit Funktionären: Als der deutsche Verband, gegen jahrelangen Usus, nur teilweise für die Kosten der Gastmannschaften aufkommen wollte, rief die Fachpresse auf zur „Solidarität mit Mali, Mauritius und Madagaskar“ und startete eine Unterstützungskampagne.
Im Finale spielte gestern abend France 3 mitnichten gegen andere Franzosen, sondern gegen Tunesien. Schon dadurch wurden die Nordafrikaner zum Triumphator der Saison.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen