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Archiv-Artikel

JULIA GROSSE TRENDS UND DEMUT Slow down, mein System!

Das morgendliche Strömen der Anzug und Kostüm tragenden Masse über die London Bridge ins Bankenviertel hat eine schon fast performative, physische Kraft. Manchmal geraten Touristen ungewollt in diesen Sog des herdenhaften Marschierens in die Büros und wundern sich, wie schnell sie plötzlich von der einen Seite der Brücke auf die andere gekommen sind. Genau hier hat man das Gefühl, eine faszinierende Klarheit zu bekommen, worum es im Finanzepizentrum London wirklich geht: Geld vermehren. Geld ausgeben. Vielleicht ein bisschen auf Pump und trotz Rezession. Aber dafür schnell, schnell, schnell!

Tempo und Wachstum hängen symbiotisch zusammen. Je zügiger etwas läuft, desto effizienter wuchert das Kapital, zumindest redet man sich das seit der industriellen Revolution ein. Wer verlangsamt, weil er beim Laufen vielleicht sein Blackberry fallen lässt, blockiert damit bereits indirekt das System und seine Effizienz. Beim Warten in der Schlange auf einen Sitzplatz arbeitet man an der Wirtschaftlichkeit des Restaurants gleich ungefragt mit, indem man schon im Stehen die Menükarte studieren muss. Die britische Regierung kündigte kürzlich an, dass die Ausbildung zum Lehrer bald noch zügiger durchgeführt wird, nur noch sechs Monate, um so die vielen arbeitslosen Investmentbanker aus den Fitnessstudios in die Klassenräume zu jagen. Doch ist das nicht total uneffizient? Sobald sich die Märkte beruhigen und wieder mit Boni winken, sind diese Lehrer die Ersten, die die Kreide fallen lassen.

Nun will die gutbetuchte Mittelschicht in der rasenden Metropole pfiffig-symbolisch die Bremse ziehen. Am Freitag findet das erste „Slow Down London“-Festival statt, und neben Vorträgen und langsam gekochtem Essen ist der Höhepunkt ein Zeitlupenmarsch über die erwähnte London Bridge, mitten in der Rushhour. Im Bankenviertel von Frankfurt würde das wahrscheinlich nicht einmal jemandem auffallen. In Londons Finanzherz wirken langsame Menschen dagegen wie bedrohliche Fremdkörper, die mutwillig den Geldfluss unterbrechen wollen. Ideengeber hinter den Entschleunigungsaktionen sind arbeitslose Unternehmensberater, schlecht bezahlte Journalisten, Buchautoren oder gemobbte Kuratoren. Natürlich haben sie das nötige Polster und nun sehr viel freie Zeit, um verspielte Versionen von Platons Akademie der Philosophie zu gründen, Langsamkeitsratgeber zu schreiben oder eben ein Slow-down-Festival zu organisieren. Strategisch und geschäftstüchtig positionieren sie ihre Aussteigerfantasien über den Rückzug aus der Tretmühle in den entscheidenden Medien, von Guardian bis FT, denn ihr kreierter Widerstand soll auf Dauer schließlich auch den Restkredit fürs Haus abbezahlen. In ein paar Monaten, so meine Vermutung, werden die Festivals und Akademien dann als Franchise-Lehrstücke in die gestressten Metropolen dieser Welt weiterverkauft. Mit der Kritik am zu schnellen System noch viel schneller Geld verdienen sozusagen.

Nachteil des Langsamkeitstrends: Zumindest der Rest der Stadt, die Putzkolonnen, die Kassiererin oder die Schichtarbeiter werden vom hedonistische Zelebrieren des Müßiggangs und wiederentdeckten Lustwandeln durch Gemäldegalerien, mit ihren schlecht bezahlten Minijobs nicht wirklich etwas haben. Eine Auszeit vom permanent gebrüllten Tempo! Tempo! Tempo! des Chefs findet für sie ohnehin nie statt. Und zur gewünschten Entschleunigung kommt es höchstens auf dem langen Heimweg nach dem Job, wenn es durch wenig atmosphärische, schlecht beleuchtete Sozialsiedlungen geht, weil der Nachtbus mal wieder voll ist.

■ Die Autorin ist Kulturreporterin der taz in London. Foto: Dominik Gigler