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Archiv-Artikel

Skandinavien in Berlin

POLITIK NEBENAN (TEIL 3) Bildung: Während die Politik streitet, hat Gabriela Anders-Neufang in Berlin eine Gemeinschaftsschule eröffnet – und begeistert damit Schüler und Eltern

Das will die CDU

Schule: Die Union will das gegliederte Schulsystem mit Haupt-, Realschule und Gymnasium erhalten. Es sollen bundesweite Leistungsmaßstäbe für Bildungsabschlüsse entwickelt werden. Konfessioneller Religionsunterricht soll in allen Bundesländer zu den Pflichtfächern gehören.

Hochschule: Durch mehr Autonomie für Hochschulen will die Union Forschung und Lehre attraktiv machen. Der Bologna-Prozess soll überprüft, das Hochschulrahmengesetz abgeschafft werden.

Wissenschaft/Forschung: Mindestens drei Prozent der Wirtschaftsleistung sollen in Forschung und Entwicklung investiert werden. Die Union will eine zweite Runde der Exzellenzinitiative umsetzen und fördern.

AUS BERLIN GORDON REPINSKI

Wenn Gabriela Anders-Neufang durch das große Fenster ihres Arbeitsplatzes im dritten Stock der Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule schaut, kann sie ihren alten Arbeitsplatz fast noch sehen. Wenige hundert Meter stadteinwärts, mitten in Prenzlauer Berg, liegt die Thomas-Mann-Grundschule, die sie bis vor einem Jahr geleitet hat.

„Es ist toll, wozu Kinder fähig sind, wenn man sie lässt“

GABRIELA ANDERS-NEUFANG

Doch was auf der Grundschule ein ganz normales, jährliches Ritual ist – die Trennung der Schüler in Haupt-, Realschule und Gymnasium –, wurde für die 49-Jährige zur Belastung. „Es war für mich der Horror, die Empfehlungen auszusprechen und zu sehen, wie wenig Chancen die Hauptschüler dadurch hatten“, sagt sie. „Ich wollte das irgendwann nicht mehr.“

Anders-Neufang entschloss sich, die Idee von der Gemeinschaftsschule voranzutreiben. Als in der Gudvangerstraße das Gebäude der ehemaligen Realschule frei wurde, wünschte sich auch der Bezirk Pankow eine Gemeinschaftsschule – und da sich herumgesprochen hatte, dass Anders-Neufang sich für dieses Schulmodell des gemeinsamen Lernens engagierte, kam sie ins Spiel. Ein Info-Abend zur neuen Schule füllte in Pankow einen ganzen Saal mit interessierten Eltern. Vor einem Jahr war es dann so weit: Die neue Gemeinschaftsschule öffnete für zunächst 104 SchülerInnen der Klassen eins bis drei die Tore, mit Gabriela Anders-Neufang als Schulleiterin. Für sie sei damit „ein Traum in Erfüllung gegangen“.

Das will die SPD

Schule: Die SPD will integrative Schulformen und Ganztagsschulen ausbauen und das gegliederte Schulsystem überwinden. Behinderte und Nichtbehinderte sollen gemeinsam lernen. Die SPD will mehr SozialarbeiterInnen.

Hochschule: Die SPD fordert ein gebührenfreies Erststudium bis zum Master und eine Umsetzung des Hochschulpaktes einschließlich einer Erhöhung der Studienplätze. Die Zulassung soll zentral geregelt, die Beratung an Universitäten verstärkt werden.

Wissenschaft/Forschung: Der Frauenanteil des wissenschaftlichen Personals soll bis 2020 auf 40 Prozent erhöht werden. Die Exzellenzinitiative will die SPD fortsetzen, die Internationalisierung der Forschung fördern.

www.spd.de/de/politik/regierungsprogramm/index.html

Das Konzept hebt sich in vielerlei Hinsicht von traditionellen Formen ab. „Wir wollen einen respektvollen und wertschätzenden Umgang untereinander“, sagt Anders-Neufang. Auch acht behinderte Kinder gehen auf die Schule. Gibt es doch einmal Konflikte, werden die Schüler aufgefordert, sich aktiv an der Lösung zu beteiligen – zum Beispiel, in dem sie sich in Gruppen beraten, wie mit dem Streit umgegangen wird.

Zudem gilt das „Häuserprinzip“, das sich die Schulleiterin in Skandinavien abgeschaut hat. So sollen in einem „Haus“ jeweils kleinere Untereinheiten mit Schülern aller Jahrgänge geschaffen werden, um der Anonymität einer wachsenden Schülerzahl vorzubeugen und das Verantwortungsgefühl der Jahrgänge füreinander zu stärken. Diese nehmen die Verantwortung an: „Es ist toll, wozu Kinder fähig sind, wenn man sie nur lässt“, sagt Anders-Neufang.

Das wollen die Grünen

Schule: Die Grünen wollen, dass SchülerInnen mindestens bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen. Das G 8 soll reformiert werden, Schulen sollen eigenständig Lehrpläne entwickeln dürfen

Hochschule: In fünf Jahren wollen die Grünen 500.000 Studienplätze schaffen. Die Regeln zur Zulassung sollen bundesweit vereinheitlicht werden. Das Bafög soll umgebaut werden, mit einem Sockelbetrag für alle Studierenden und einem Zusatzbetrag nach Bedarf.

Wissenschaft/Forschung: Die Finanzmittel sollen auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. Die Grünen wollen die Juniorprofessur ausbauen und Frauen fördern.

www.gruene.de/partei/programm.html

Die Lehrpläne sind nach den individuellen Möglichkeiten ausgerichtet. Bis zur achten Klasse gibt es keine Noten, die SchülerInnen können ihr Tempo selbst bestimmen – sie arbeiten sich einen „Fahrstuhl“ hoch, bis sie die zehnte Klasse erreichen.

Das will die FDP

Schule: Die FDP will den Lehrerberuf aufwerten. Das Schulsystem soll durchlässiger werden. Sonderschulen sollen beibehalten werden, die Bildung soll insgesamt gestärkt werden. Hochbegabte Kinder will die FDP fördern.

Hochschule: Die Anzahl der Hochschulabsolventen soll erhöht werden. Die FDP will die Eliteförderung an den Hochschulen stärken und den Hochschulen mehr Autonomie zusprechen. Die Mittelvergabe soll leistungsorientiert stattfinden.

Wissenschaft/Forschung: Die Liberalen wollen Freiheit für staatliche Forschungseinrichtungen und forschungsfeindliche Hemmnisse der Unternehmensteuer abschaffen.

www.deutschlandprogramm.de

Auch äußerlich hat sich die Schule verändert: Die Klassenräume wurden geschmückt, der Schulhof mit Spielgeräten und einem Klettergarten ausgestattet und ein kleines Café als Treffpunkt für die Eltern eingerichtet. Die danken es der Schulleitung durch ihr Engagement. Im ersten Jahr gab es mehr Mitglieder im Schulförderverein als Schüler, „die Schule wirkt wie ein Magnet“, sagt die Leiterin.

Das will die Linke

Schule: Die Linke will die Gemeinschaftsschule bis zur 10. Klasse. Ein inklusives Bildungssystem für Behinderte und Nichtbehinderte soll auf allen Ebenen verankert werden. Für LehrerInnen soll ein Master eingeführt werden.

Hochschule: Individuelle Auswahlverfahren sollen abgeschafft, stattdessen der Hochschulzugang geöffnet und der Übergang vom Bachelor zum Master erleichtert werden. Bafög soll elternunabhängig gezahlt werden. Ein „Studienpakt II“ soll Studienbedingungen verbessern und Finanzierung sichern.

Wissenschaft/Forschung: Forschung soll auf gemeinwohlorientierte Projekte ausgerichtet werden. Die Linke will die ostdeutsche Forschungslandschaft fördern und Frauen stärken.

www.die-linke.de/wahlen/positionen/wahlprogramm

„Wir schätzen, dass das Lerntempo individuell angepasst wird“, sagt Alexandra Kramm, deren siebenjährige Tochter Emilia im zweiten Jahrgang ist. Ihre Tochter freut sich über die Vermischung der Jahrgänge. Seit diesem Schuljahr ist Emilia Patin für eine Erstklässlerin, „die Verantwortung macht ihr Spaß“, sagt die Mutter.

Gabriela Anders-Neufang will die Schule nun Jahr für Jahr aufbauen – bis zur zehnten Klasse. Danach soll es eine Kooperation mit einem Oberstufenzentrum geben. Weil die Schule so beliebt ist, möchte sie im kommenden Jahr zusätzlich einen fünften Jahrgang aufnehmen. Am liebsten wäre ihr, wenn die SchülerInnen die Mischung aus dem Kiez an der Pankower Grenze widerspiegeln würde. Es sei doch so, wie es ein afrikanisches Sprichwort beschreibt, sagt sie: „Will man ein Kind erziehen, bedarf es eines ganzen Dorfes.“

■ Die Serie „Politik nebenan“ erscheint bis zur Bundestagswahl jeweils Montag und Donnerstag. Sie erklärt, wie Politik Menschen im Alltag betrifft – und was die Parteien wollen. Bisher erschienen: Überwachung (taz vom 7. 9.) und Gesundheit (taz vom 10. 9.)