: Sind alle Christen Kannibalen?
■ „Freistil oder Das Fleisch der Götter“, West 3, 20.45 Uhr
Sind alle Christen Kannibalen? Sie sind es, jedenfalls für einen Besucher aus einem anderen Kulturkreis, der die Teilnehmer eines Abendmahls dabei beobachtet, wie sie die Hostie empfangen: „Das ist Dein Leib, den Du für uns gegeben hast.“ Schmatz, schmatz. Die Gläubigen mümmeln brav die furztrockene Oblate und blicken dabei auf Gottes Sohn, der augenscheinlich gefoltert - am Kreuz baumelt. Die Liebe zu Gott geht durch den Magen, der Verzehr der Hostie kommt dem Verschlingen des Allmächtigen gleich. Überlegungen des Literaturprofessors Jochen Hörrisch zur Poesie des Abendmahls, aufgenommen von Thomas Schmitt für die neue Ausgabe des Kulturmagazins Freistil oder Das Fleisch der Götter.
Was aber hat die Hostie in der Hand des Gläubigen mit dem Fliegenpilz zu tun, der im Vorspann der Sendung direkt neben der kreisrunden Oblate montiert ist? Pilze mit halluzinogener Wirkung spielten in der Kultur der Mayas eine wichtige Rolle - so aßen ihre Priester den Pilz „Stropharia cubensis“, während sie religiöse Rituale praktizierten. Eine überraschende Ähnlichkeit mit der Zeremonie des Abendmahls läßt sich nicht bestreiten. Freistil auf den Spuren alter schamanischer Kulte, die mit der Anwendung der Rauschpilze ihr Bewußtsein erweiterten. Auch hier gibt es Parallelen zur christlichen Religion, nur daß diese Erfahrung bis heute unterdrückt ist.
Thomas Schmitt hat mit seiner jüngsten Ausgabe von Freistil zu einem klar strukturierten Konzept gefunden, welches die zunächst abwägigen Einzelbeiträge schlüssig verbindet. Mit einer - auch in den bisherigen Sendungen nie vorhandenen - „Clipästhetik“, wie sie die Jury des Grimmel -Preises im Frühjahr mit Bronze auszeichnete, hat das herzlich wenig zu tun, schon eher mit der Kunst der visuellen Kontemplation.
Die verschlungenen Pfade kunstvoller Sinnstiftung führen mitunter zu nachdenklichen Erkenntnissen und zu - in diesem Medium seltener - Selbstkritik. So soll das Medium Fernsehen an die Stelle des Abendmahls getreten sein, quasi als Glaubensersatz der abendländischen Religion. Professor Hörrisch geht noch einen Schritt weiter: Für ihn gab es zwei Epochen, die der Religion und die des Geldes, welche die Beziehung zwischen Sein und Sinn bestimmt haben. Die Medienwelt hat nun die dritte Epoche eingeleitet: die der Simulation. Vorsicht! Auch Freistil ist eine Simulation der Wirklichkeit. Aber eine angenehme.
boy
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