: Sieben Stunden Regen
Man vergisst die Zeit und alle Worte und beschließt, ein aufmerksameres Leben zu führen, wenn man die Filme von Béla Tarr anschaut. Der ungarische Regisseur erhält den Andrzej-Wajda-Freedom-Preis
VON DETLEF KUHLBRODT
Wenn man zurückblickt auf die 90er-Jahre und sich überlegt, welche Filme die wichtigsten waren, fallen einem Cronenbergs „eXistence“, Wong Kar-Wais „Chungking Express“ und Béla Tarrs „Satanstango“ ein: In je eigener Melancholie haben sie sich mit einer in ihren basalen Gewissheiten angeschlagenen menschlichen Existenz beschäftig. Verloren in simulierten Welten, vereinsamt in Gegenden, in denen nichts mehr zu tun ist, überwältigt von den Schocks einer Geschichte, die einem nur noch zu reagieren erlaubt. Béla Tarr variierte sein Meisterwerk später in „Die Werckmeisterschen Harmonien“ noch einmal und beeinflusste den immer noch jungen Fred Kelemen („Frost“) sehr, aber Kassenknüller sind die Filme des ungarischen Regisseurs, der als dffb-Dozent oft zwischen Budapest und Berlin pendelte, nie gewesen.
Vielleicht auch, weil er nie so richtig arty war, beschränkt sich sein Ruhm fast auf einen Kreis melancholischer Cineasten. Deshalb freut es um so mehr, dass der ungarische Regisseur nun den „Andrzej-Wajda-Freedom-Preis 2005“ der „American Cinema Foundation“ verliehen bekommt, am nächsten Sonntag um 19 Uhr im Arsenal, und 5.000 Euro Preisgeld. Wajda, der in den 50er-Jahren Mitbegründer der polnischen „Neuen Welle“ war, wird anwesend sein. Die American Cinema Foundation ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Los Angeles, die seit 1997 Filme aus den ehemals sozialistischen Ländern Ost- und Mitteleuropas auf dem Freedom Film Festival vorstellt. Anlässlich der Preisverleihung werden drei Film Béla Tarrs noch einmal im Arsenal gezeigt.
„Satanstango“ ist das überragende Hauptwerk der düsteren Filme des Regisseurs, trotz der Länge von 450 Minuten. „Die Werckmeisterschen Harmonien“ von 2000 wirken trotz einiger Sequenzen, die im Kopf haften bleiben, manchmal wie ein auf übliche Spielfilmlänge zusammengekürztes Echo von „Satanstango“. Der durchgehend in einem verwaschenen Schwarzweiß gehaltene Film spielt in der ungarischen Tiefebene, wo halb verlassene Siedlungen unendlich weit voneinander entfernt liegen und ein grauer Himmel so tief hängt, dass er die Menschen zu erdrücken droht. Es regnet fast ununterbrochen.
Die Protagonisten – einfache Leute in zerschlissenen Kleidern – leben auf einer stillgelegten landwirtschaftlichen Maschinenstation. In dumpfer Untätigkeit gehen ihre Tage vorbei. Jeder versucht, den anderen zu betrügen. Die meisten trinken – und wie: Es gibt eine Kneipenszene, deren großartige Dissonanz und finstere Verzweiflung einfach unglaublich ist: Ein Betrunkener lallt immer die gleichen Sätze, sinnlos bedrängt jemand die Frau, mit der er tanzt, sie wehrt ihn ab, um ihn dann wieder ranzulassen, sinnlos schlagen sich welche; betrunken liegt jemand auf einer Bank und lässt die Tanzenden ab und an über sein ausgestrecktes Bein fallen. Ein kleines Mädchen mit abstehenden Ohren quält Katzen, bevor sie sich umbringt.
Ein dicker Doktor (Peter Berling) starrt durch ein Fenster auf das immergleiche Leben und schreibt auf, was geschieht. Das Aufschreiben ist seine verzweifelte Form der Welt- und Selbstvergewisserung. Ununterbrochen trinkt er dabei aus einer riesigen Korbflasche und raucht und geht erst hinaus – nach Tagen – wenn der Schnaps alle ist. Über schlammige Wege schwankt er gen Abend. Später kippt er um und bleibt liegen. Wie ein Stück Vieh wird er am nächsten Morgen ins Krankenhaus gekarrt.
Eigentlich wollen die Einwohner fliehen, doch die graue Depression hat ihnen jede Entschlusskraft geraubt. So warten sie auf den Retter. Das könnte Irimis sein, ein falscher Prophet, der kommt, um die Bewohner aus ihrer Lethargie zu wecken. Mit seinem Gehilfen Petrina eilt er durch den Regen, und ein starker Wind treibt die Dinge am Weg vor ihnen her und bläht die langen Mäntel. Wahrscheinlich ist er ein Polizeispitzel, sicher ein Betrüger. In einer feurigen Rede am Sarg des kleinen Mädchens klagt er die Untätigkeit der Bewohner an und verspricht ihnen woanders ein besseres Leben, wenn sie ihm ihr Erspartes hergeben. Das tun sie dann auch und zerschlagen wütend ihre Häuser und ziehen in noch einsamere Ruinen.
Béla Tarr verzichtet in seinen großartig trostlosen Bildern auf jegliche Koketterie. Symbole sind selten. In den siebeneinhalb Stunden von „Satanstango“ sind die eigenen Gedanken oft woanders: Man vergisst sich, die Zeit und alle Worte, denkt an tote Freunde; meditiert über trostlose Räume und vergilbte Küchengardinen und nimmt sich vor, irgendwann einmal ein aufmerksameres Leben zu führen. Das dachte ich vor zehn Jahren, als ich den Film zum ersten Mal sah. Und László Krasznahorkai, nach dessen gleichnamigen Roman der Film entstanden ist, sagte: „Unsere einzige Aufgabe besteht darin, die Distanz zwischen dem Film und unserer Verzweiflung zu erhalten.“
Vom 4. bis 6. Februar laufen die Filme Béla Tarrs im Arsenal, siehe tazplan