■ Sie tragen Sweatshirts mit englischer Aufschrift, und ihre Computersoftware kommt aus den USA. Trotzdem ließen sich die chinesischen Studenten zu heftigen antiamerikanischen Protesten hinreißen. Ein Grund: gekränkter Nationalstolz einer Möchtegern-Großmacht: Die Enttäuschung über den Westen
Es klirrt und scheppert. Zhang Wei duckt sich ängstlich. Doch es ist nur ein Kieselstein, der – hart geworfen – die milchgläserne Laterne am Eingang der amerikanischen Botschaft in Peking zerdeppert. Begeistert applaudieren die Kommilitonen von der Elitehochschule für Luft- und Raumfahrt und singen: „Blut muß mit Blut bezahlt werden.“
Nur Zhang Wei, der schmalbrüstige Brillenträger im letzten Glied des Demonstrationstrupps, singt nicht mit. „China kann nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Wir müssen friedlich bleiben“, sagt der 22jährige Student für Raketentechnik. „Erst in zehn oder zwanzig Jahren, wenn China stärker ist, können wir mit Blut zurückzahlen.“
Nach dem Nato-Anschlag auf die chinesische Botschaft in Belgrad ist sich Zhang sicherer denn je, das richtige Studienfach gewählt zu haben.
So stehen sie wieder im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit: die Pekinger Studenten, heutzutage gekleidet in westliche Markenjeans und Sweatshirts mit englischen Aufschriften, doch immer noch in der Lage, ihre Hauptstadt im Nu in ein Hauptquartier politischen Protests zu verwandeln.
Sie sind, was sie immer waren: die Elitejugend eines Viertels der Weltbevölkerung, gesiebt durch etliche Prüfungen und ausgestattet mit dem hohen Privileg eines Pekinger Studienplatzes. Sie kennen ihre Macht: Vor achtzig Jahren brachten Pekinger Studenten mit der Bewegung vom 4. Mai die kommunistische Revolution Chinas ins Rollen, vor zehn Jahren forderten sie auf dem Tiananmenplatz Demokratie für eine Milliarde Menschen, und heute protestieren sie gegen die Weltmacht USA und ihre Verbündeten.
„Nieder mit dem Hegemonismus“, lautet die Kernforderung von Zehntausenden, die am Wochenende gegen die Nato-Bombardierung von Jugoslawien in Peking aufmarschieren.
Zuerst flossen Tränen. Als sich am Samstag morgen, viele Stunden vor den ersten Mitteilungen in Staatsfernsehen, die Kunde vom Tod dreier chinesischer Journalisten – inzwischen sind es vier Tote – in der Botschaft in Belgrad wie ein Lauffeuer über die studentischen Internetseiten verbreiten, hocken die Kommilitonen entsetzt in ihren Wohnheimen, starren hilflos auf ihre Hochbetten in den engen Schlafsälen und weinen aus Trauer um ihren verlorenen Nationalstolz. Was kann ihr China, das doch eine Weltmacht sein möchte, in dieser Stunde tun? Irgend etwas muß geschehen.
Das weiß zu dieser Zeit auch das Politbüro. Im Laufe des Vormittags werden die Studentenverbände aktiv, um die Mittagszeit trifft die Demonstrationsgenehmigung der Regierung ein. Dann geht alles sehr schnell: Wandzeitungen entstehen, Fahnen werden mit großen Schriftzeichen bemalt, schon fahren die ersten Busse zum Botschaftsviertel ab.
Ein paar Stunden später berichtenUS-Fernsehsender von „antiamerikanischen Ausschreitungen“ und mangelnden Sicherheitsmaßnahmen vor der US-Botschaft in Peking. „Wir fühlen uns wie im Belagerungszustand“, klagt ein amerikanischer Sprecher.
Ganz so schlimm ist es nicht. „Die Stimmung ist freundlich, die Polizei hilfreich, und die Stundenten sind gut organisiert“, beobachtet ein erfahrener westlicher Diplomat. Ihn erinnert alles an die Studentendemonstrationen vor zehn Jahren: die vielen Kameras von Polizei und westlichen Medien, die den Studenten folgen, die sympathisierenden Passanten. Mit Kind und Kegel ist Peking am Sonntag auf den Beinen. Aus allen Richtungen rollen die Lastenfahrräder mit Kisten voller Mineralwasser herbei, das vom Volk großzügig an seine jungen Helden verteilt wird. Und je mehr Applaus sie bekommen, desto höher recken die Studenten ihre Hälse und schreien aus voller Kehle: „Löst die Nato auf!“ Längst haben sie die erste Hilflosigkeit nach dem Eintreffen der Nachrichten aus Belgrad vergessen. Denn es ist etwas Unerwartetes geschehen: Ganz China ist sich einig, vom Präsidenten bis zum Straßenkehrer und unabhängig vom Standort in der riesigen Republik. In Guangzhou, der südchinesischen Exportmetropole, in der das Geschäft sonst über alles geht, protestiert die Jugend genauso wie am Finanzplatz Schanghai oder in der alten westchinesischen Handelsstadt Chengdu, wo Demonstranten in der Nacht zum Sonntag das amerikanische Konsulargebäude stürmen. Diese Zeitgleichheit von Massenaktionen hat es zuletzt ebenfalls im „Pekinger Frühling“ von 1989 gegeben – mit dem großen Unterschied, daß die Protestteilnehmer diesmal hinter ihrer Regierung stehen.
Man mag dabei den schmerztriefenden Ton der chinesischen Staatsmedien im Westen als pure Propaganda empfinden, doch er kommt bei den Menschen an, die auf dem Fernsehbildschirm die Familienbilder der Belgrader Opfer vorgeführt bekommen, eines gerade erst sechs Monate verheiraten Journalistenpaares und einer 48jährigen Mutter, die Mann und Kind hinterläßt.
Natürlich verrät die Emotionalität solcher Formulierungen etwas von dem halbaufgeklärten Zustand, in dem sich die Massen bewegen. Viel war über Miloevic und sein Terrorregime bisher nicht in den Medien zu erfahren, dafür um so mehr über die völkerrechtswidrigen Angriffe der Nato.
Was auf den Pekinger Straßen am Wochenende die Züge einer lebendigen und spontanen Volksbewegung trägt, erstarrt in Zeitungen und im Fernsehen zu bloßer Verkündungsrhetorik der kommunistschen Institutionen. Jeder Berufsverband und jede Parteigliederung gibt hier ihre gestelzte Empörung zu Protokoll, doch niemand sagt etwas über die Hintergründe des Konflikts in Jugoslawien, ganz zu schweigen von den Gründen, die die Nato für ihr Vorgehen anführt. Zu brisant ist die Autonomiefrage für ein autoritär regiertes Land, in dem sich – trotz der über neunzigprozentigen Mehrheit der Hanchinesen – noch annäherend fünfzig andere ethnische Volksgruppen tummeln.
Der kommunistischen Führung ist nicht wohl bei diesem fernen Krieg: Diesen Eindruck vermittelt Vizepräsident Hu Jintao, als er am Sonntag abend in einer ersten Fernsehansprache der Regierung nach den Belgrader Ereignissen die Demonstrationen zwar billigt, aber gleichzeitig dazu aufruft, die „soziale Stabilität nicht zu gefährden“.
Hu geht es auch um den Schutz der Ausländer in China. Er muß davon gehört haben, daß einige Amerikaner bereits auf offener Straße verprügelt wurden. Aber am wichtigsten ist ihm, daß in Amerika und Europa kein falscher Eindruck entsteht: Er spricht von der Fortsetzung der chinesischen Öffnugs- und Reformpolitik. Bemerkenswert ist dabei auch, daß Hu als jüngstes Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros in dieser nach staatlicher Autorität verlangenden Stunde vor der Nation zu Wort kommt. Partei- und Staatschef Jiang Zemin hat seine Nachfolgeentscheidung offenbar schon getroffen.
Daß Hus neue Thronfolgerrolle von den Studenten kaum zur Kenntnis genommen wird, zeigt, wie aufgewühlt sie sind. Nicht nur, daß sie nach so langer Zeit plötzlich wieder die Straße beherrschen. Sie ahnen wohl, daß es mit ihrem lustigen Treiben schon bald wieder vorbei sein kann, zumal der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder am Mittwoch in der chinesischen Hauptstadt erwartet wird und der Regierung einen guten Grund geben könnte, den Protesten Einhalt zu gebieten. Viel tiefer aber spüren manche Demonstranten die innere Widersprüchlichkeit ihrer Aktionen.
Zhang Wei, der Raketenexperte, war schon am Samstag vor der US-Botschäft und sitzt einen Tag danach mit zwei Kommilitonen im Kentucky Fried Chicken gegenüber dem Eingang zu seiner Hochschule. Alle Anwesenden trinken Coca-Cola, und ihnen ist klar, daß ein Boykott amerikanischer Produkte, wie ihn manche Studenten jetzt fordern, für sie nicht in Frage kommt. „Mein Handy ist von Motorola und meine Software von Microsoft. Ohne amerikanische Technologie komme ich nicht aus“, gesteht Zhang. Gerne geben die drei zu, daß sie eigentlich nie gegen die USA waren. Was sie heute erleben, sei eine große Enttäuschung über den Westen. „Bis gestern träumten von uns viele vom Studium an einer amerikanischen Universität“, sagt Wei Lin, eine Wirtschaftsstudentin.
Zumal sich mit den Studenten über die Menschenrechtsproblematik im Kosovo durchaus streiten läßt. Was sollte denn China unternehmen, wenn man wirklich wüßte, daß Millionen Menschen in Nord-Korea verhungerten? Da ist man sich schnell einig, daß zuwenig getan wird, um den Nachbarn im Norden zu helfen, auch wenn militärische Aktionen für die Studenten nicht in Frage kommen. „Unser Professor hat uns gesagt, daß es einen dritten Weltkrieg nicht geben wird. Aber wir sind in unsicher. Wir leben in einer unruhigen Welt, in der wir uns noch nicht auskennen, und müssen vorsichtig sein“, überlegt Wei Lin. Was ihr Angst bereitet, sind die Bilder von Steven Spielbergs letztem Kriegsfilm, „Der Soldat James Ryan“. Sie sagt: „Man sieht dort eine Grausamkeit, die wir Jungen nicht mehr kennen.“
Je mehr Zustimmung die chinesischen Studenten, die Elite eines Drittels der Weltbevölkerung, erfahren, desto lauter schreien sie: „Löst die Nato auf!“
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