Sicherheit im Skirennsport: Freie Fahrt ins Risiko
Im alpinen Skirennsport mehren sich die Stürze. Neben der höheren Zahl an Wettbewerben spielt auch der erhöhte Druck auf die Athleten eine Rolle.
Wie schon seit Jahrzehnten lagen auch diesmal in Kitzbühel die schönen und schlechten Seiten des alpinen Skirennsports nah beieinander. Während am Samstag, genau sechs Jahre nach seinem spektakulären Abfahrtssieg auf der Streif, Thomas Dreßen im Zielraum von seinen Teamkollegen mit Schampus nach seinem letzten Weltcuprennen in die „Rente“ verabschiedet wurde, schepperte auch ein Song der „Toten Hosen“ aus den Lautsprechern. „An Tagen wie diesen / wünscht man sich Unendlichkeit …“
Die gibt es jedoch auch im Skisport nicht, und nachdem das Knie von Dreßen nach mehreren Operationen in den zurückliegenden Jahren und langer Verletzungsmisere zu ramponiert war, um die Extrembelastungen auf den steilen Eispisten auszutarieren („Das lässt mein Körper nicht mehr zu“), verabschiedete sich dieser mit Tränen in den Augen mit gerade mal 30 Jahren aus dem Profisport.
Tage zuvor hatte es im Training auf der Streif wieder schwere Stürze gegeben. Den für Israel startenden gebürtigen Ungarn Barnabas Szöllös hatte es nach der Mausefalle heftig nach dem Verschneiden seiner Skier erwischt. Er prallte mit dem Kopf auf die Eispiste, woraufhin sein Helm davonflog und er ins Fangnetz krachte. Er wurde mit dem Helikopter ins Klinikum nach Innsbruck gebracht. Diagnose: mehrere Frakturen im Gesichts- und Kieferbereich.
Der Kitzbüheler Rennchef Mario Mittermayer-Weinhandl erklärte, Szöllös werde wohl keine bleibenden Schäden davontragen. Am Dienstag wurde er aus der Klinik entlassen. Letztes Wochenende war auch die große Rivalin von Mikaela Shiffrin (USA), die Slowakin Petra Vlhová, gestürzt. Bei ihrem „Heimrennen“ in Jasna zog sie sich im Riesenslalom einen Kreuz-und Innenbandriss im Knie zu. Saisonende.
Frage der Eigenverantwortung?
Der Renndirektor des Skiweltverbandes (FIS) Markus Waldner, einst selbst Rennläufer, sieht für die aktuelle Verletzungsmisere nicht nur den übervollen Rennkalender als Ursache. „Der alpine Skirennsport ist schon immer eine verletzungsanfällige Risikosportart gewesen, noch dazu in der freien Natur bei teils schwierigen Schnee-, Eis-, Sicht- und Windverhältnissen.“
Zudem verweist der studierte Sportwissenschaftler auch auf die Eigenverantwortung der Fahrer und den Spagat zwischen dem Risiko, den einzelne Athleten auf der Hatz um eine gute Platzierung eingehen. „Individuelle Fahrfehler passieren ohnehin ständig.“ Waldner sieht aber auch die Skiindustrie in der Verantwortung und bezeichnet einige der im Weltcup benutzten, aggressiven „Rennlatten“ als „Waffen“. Teure elektronische Auslösesysteme bei den Skibindungen oder ein Knie-Airbag sind noch immer nicht marktfähig.
Der aktuelle Weltcupführende Marco Odermatt (26) aus der Schweiz, der bisher als einer von wenigen von schweren Verletzungen verschont geblieben ist, sagt: „Wer gewinnen will, muss ganz klar ans Limit gehen. 2023 hatte ich mir in der Abfahrt in Kitzbühel auch eine leichte Knieprellung nach einem Fahrfehler zugezogen.“
Airbag pflicht wird kommen
Der Südtiroler Routinier und Super G-Weltmeister von 2011, Christoph Innerhofer (39), fährt bereits seit 2006 im Weltcup. Kurz vor dem Jahreswechsel beim Rennen in Bormio traf es auch ihn mal wieder, Sturz in die Fangzäune, wo er sich eine Schnittwunde in der Wade zuzog. Innerhofer erklärt, „dass der Leistungsdruck, sich immer möglichst weit vorne zu platzieren, um viele Weltcup-Punkte zu sammeln, natürlich eine Gratwanderung ist.“
Er schätzt, dass „rund 80 Prozent der Athleten nur kleine Sponsoren haben und wenig Geld verdienen“. Auch diese müssen dann auf der Piste extrem an ihre Leistungsgrenzen gehen. Und der norwegische Abfahrts-Olympiasieger Aksel Lund Svindal, der seine Karriere aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig beendete, erklärt: „Als Profi geht man das Risiko eines Sturzes ganz bewusst ein. Das ist die Wahrheit.“
In der kommenden Saison ist die Airbag-Sicherheitsweste für alle Athleten Pflicht. „Rund 48 Prozent der Weltcup-Fahrer tragen aktuell einen Airbag“, also nicht mal die Hälfte, wie ein Servicemann des italienischen Herstellers erklärt. Einige Fahrer fühlen sich allerdings in ihrer Bewegungsfreiheit durch den rund 1.500 Gramm schweren Airbag eingeschränkt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächsten Meldungen über verletzte Fahrer die Runde machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag