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Archiv-Artikel

jugend liest Sex, Sex, Sex

So ist das also bei den Jungs. Fünfzehn, sechzehn Jahre alt, und alles, woraus die Welt besteht, ist Ficken, Vögeln, Wichsen. Und Rumfummeln, das gibt es auch noch, oder Knutschen, doch, so etwas vergleichsweise Harmloses gehört auch dazu. Oder Petting. Ich wusste gar nicht, dass man diesen Ausdruck heute noch benutzt. Ist auch egal. Läuft schließlich alles aufs selbe raus. Sex, Sex, Sex. Und wenn gerade nichts richtig läuft, dann wenigstens in Gedanken. Aber meistens läuft was. Stundenlang, viermal am Tag oder fünfmal, an allen möglichen und unmöglichen Orten, besonders häufig allerdings hinter Büschen auf dem feuchten Boden irgendwelcher Parks.

DOING IT. Großgeschrieben. „Das Rascheln sich versteifender Nippel gegen die baumwollverstärkten Körbchen tausender BHs. Das sanfte Sickern sich mit Feuchtigkeit voll saugender Höschen.“ Ab 16 Jahren, sagt ein kleiner Vermerk des Carlsen Verlags über Melvin Burgess’ neuen Jugendroman.

Ob das wirklich so zugeht in neunten und zehnten Klassen? Keine Ahnung. Irgendwie weiß ich gar nichts, denke ich. Ich bin ja auch eine Frau und dazu vom Alter her Lichtjahre entfernt, das macht einen Unterschied, ganz klar. Gleichzeitig: Unmöglich, dem Buch einen gewissen pornografischen Reiz abzusprechen. Allerdings lässt der nach den ersten hundert Seiten deutlich nach. Überdosis, man kennt das. Nur die Jungs scheinen das nicht zu kennen. Irgendwann dann doch, zumindest ein bisschen, aber da sind bereits weitere hundert Seiten vergangen.

Ziemlich erstaunt reibe ich mir die Augen und denke: Ganz schön smart, wie Burgess das macht. Neben all dem Sex so weit in die … doch, genau das ist es, auch wenn es wieder nach der alten Romantikmasche klingt: in die Seelen zu schauen. Aber das macht er nicht, damit nach all dem Sexzeugs doch wieder die inneren Werte triumphieren. Und das ist vielleicht sogar das Bemerkenswerteste an diesem Buch: dass Melvin Burgess beides nicht gegeneinander ausspielt, dass der Sex nicht in die Zivilisationszwinge genommen wird und da trotzdem noch was anderes Platz hat, das über den puren Trieb hinausgeht.

Außerdem, auch nicht unwichtig: Als Romanschreiber ist Burgess ein Könner, er versteht sein Handwerk. Vor allem seine Perspektivwechsel sind von bewundernswert schnörkelloser Eleganz. So kann man die Pubertätsnervensägen in Ruhe betrachten und gleichzeitig ihre inneren Stimmen hören. Das ist schon geschickt. Der Plot selbst ist einfach und doch fein und komplex. Dino will Jackie rumkriegen, die aber will den „richtigen Zeitpunkt“ abwarten. Ben treibt es mit seiner Lehrerin, womit er allerdings entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten bei seinen Freunden nicht angeben kann; schließlich fühlt er sich zunehmend in ihren Fängen und weiß nicht, wie er sich daraus befreien soll. Jonathon wiederum tät es gern mit Deborah, aber Deborah ist dick, wogegen ein Zyklopenauge offenbar gar nichts wäre. Auch nicht ganz einfach, aber dann gibt es bei den beiden tatsächlich so etwas wie ein Happy End. Während bei Dino erst mal alles auseinander fliegt. Erst beobachtet er seine Mutter bei einem Seitensprung und sprengt anschließend mit seinem Wissen die wenigstens oberflächlich heile Familie auseinander. Dann nimmt eine enttäuschte Liebe Rache, indem sie ihm einen Ladendiebstahl anhängt, womit er nur knapp an der Vorstrafe vorbeischrammt.

Nach dreihundert Seiten Turbulenzen sind alle erschöpft, die Leser und sogar die Jungs. Die brauchen nach dem ewigen Hormonstress dringend eine Abwechslung. Ein Mädchen, das gut aussieht, das bleibt schon wichtig. Aber sonst sollte sie einfach nett sein, nicht so überdreht und aufgetakelt, irgendwie normal. Und das klingt nicht mal nach Abbitte für zu viel vorherigen Teeniesex. Kaum zu glauben.

ANGELIKA OHLAND

Melvin Burgess: „Doing it“. Deutsch von Andreas Steinhöfel. Carlsen Verlag, Hamburg 2004, 384 Seiten, 14 Euro