Frank Göhre: „Der Auserwählte“ : Sex, Schuld und Habgier
Es geht um: gestohlenes Drogengeld, den entführten Millionärssohn Eloi, ein Chinarestaurant in St. Pauli, ein totes Kind, den aus Guinea geflohenen David, eine Gruppe alter Schulfreunde und eine Kommune auf La Gomera, die in den achtziger Jahren sexuelle Befreiung sucht.
Viele Geschichten, viele Personen und viele Schauplätze sind da in Frank Göhres neuem Krimi „Der Auserwählte“ versammelt, in dem er gewohnt dreckig und gehetzt über Sex, Schuld, Habgier und sonstige Abhängigkeiten und Abgründe schreibt. Aber nicht zu viele, denn der 67-jährige Roman- und Drehbuchautor weiß genau, was er tut. Es gibt kein überflüssiges Geschnörkel und jedes noch so kleine Detail wird für die Geschichte gebraucht. Man sollte sich beim Lesen also nicht vom extremen Tempo überrennen lassen. Zum Durchatmen zwischendurch sei die Liste der handelnden Personen zu Beginn des Buches empfohlen, denn bei all den wüsten Verstrickungen kann der Überblick schon mal abhanden kommen.
Eloi lernt David in Hamburg kennen und hilft ihm, auf einer Party Koks zu verkaufen. Sie werden über den Tisch gezogen und David schuldet dem Dealer Blacky 1.000 Euro. Dann verschwindet Eloi, und bei seinen Eltern geht eine Lösegeldforderung über fünf Millionen Euro ein.
Bettina, Firmenerbin, erfolgreiche Geschäftsfrau und Elois Mutter, versucht, die ungeliebte Verwandtschaft um Geld zu bitten, um ihren Sohn auszulösen. Ihr Mann Klaus, mit dem sie nur auf dem Papier eine Ehe führt und von dem sie schon lange rein gar nichts mehr erwartet, setzt einen alten Schulfreund, Ex-Polizisten und Ex-Liebhaber von Bettina, auf die Fährte der Kidnapper, was alles nur noch schlimmer macht.
Göhre baut gekonnt Rückblenden und Perspektivwechsel in die Hamburger Gegenwart ein. Nach und nach erfahren wir, was wirklich hinter Elois Entführung steckt und was dazu führte, dass die Erwachsenen alle dermaßen zerstört sind, und warum sie dennoch nicht voneinander loskommen können. Er führt uns zurück in die 80er Jahre, als Bettina, das schwarze Schaf der Familie, gegen den Vater aufbegehrte und sich Pavel Schrotters Kommune auf La Gomera anschloss, die der Kommune Otto Muehls nachempfunden sein dürfte, der einst in Österreich und auf La Gomera zahllose Menschen anlockte und ausbeutete. Bettina suchte in der Kommune Zuflucht und Geborgenheit und fand einen Sektenführer, der freie Sexualität predigte, aber sexuelle Hörigkeit meinte.
Das Aufregende an „Der Auserwählte“ ist neben dem hohen Tempo Göhres wandelbare Sprache. Er schafft es, bei jeder Figur einen anderen Ton anzuschlagen und muss so kaum beschreibende Worte über seine Charaktere verlieren. Der Stil allein lässt uns Bettinas Einsamkeit und Klaus Unglück in seinem missratenen Leben erkennen. Der raue und stumpfe Tonfall lässt uns vor dem Dealer Blacky zusammenzucken, der keine Sekunde zögert, eine Frau zusammenzuschlagen, mit der eben noch ausgiebigen Sex hatte. So schreibt man gute Krimis, die einen ein wenig atemlos zurücklassen. ILK
Frank Göhre, Der Auserwählte. Pendragon Verlag 2010, 264 S., 9,95 Euro