Selbstverständlichkeit statt Leidenschaft: EU als Pathosvernichtungsmaschine
Die Europäische Union braucht keine Leidenschaft und Euphorie, sondern ein Training in Evidenz und Selbstverständlichkeit.
Ich gestehe es lieber gleich: ich kann keine Texte zu Europa lesen. Denn Texte zu Europa sind, seien wir ehrlich, meist gähnend langweilig. Die Ursache für diese Langeweile ist aber interessant. Sie ist bereits Teil des Problems.
Affirmative Texte zu Europa bemühen zwei Arten von positiven Bildern: kulturelle und politische. Beides ist in der Regel unerträglich. Die Großmutter aus Tschechien, der Großvater aus Triest oder sonstige Beschwörungen des europäischen Völkergemischs sowie der kulturellen Leistungen einer heroischen Vergangenheit - schauerlich. Ebenso wie die großen Worte von Friedensprojekt und Völkerverständigung.
Warum das alles so schwer auszuhalten ist? Es ist nicht wegen des stets melancholischen Tons der Beschreibungen, auch nicht wegen der Diskrepanz von politischem Ideal und Wirklichkeit, ja, es ist nicht einmal wegen der Plattitüden - unerträglich ist in all diesen Fällen das Pathos, das man sich bemüßigt fühlt zu mobilisieren, wenn es um Europa geht. Unerträglich ist es nicht, weil es falsches Pathos wäre - es gibt in dem Falle kein richtiges oder zu viel davon, es gibt da kein richtiges Maß -, sondern weil es völlig fehl am Platz ist.
Denn die Europäische Union ist eine Pathosvernichtungsmaschine. Nehmen wir dies mal als eine ganz nüchterne Feststellung. Dann muss man wohl sagen, dass der Ausdruck Maschine hier wohl noch zu bildhaft ist. Denn Europa hat - eine Aussage, die durch ihre stetige Wiederholung nicht weniger richtig wird - ein ikonografisches Defizit. Da kann man die besten Designer bemühen, sie werden diese Ikonografie, die Bebilderung des EU-Projekts, nicht zustande bringen. Alle Darstellungen, die sie finden mögen, werden nicht als tatsächliche Symbole - also als Zeichen, die Menschen binden - funktionieren. Denn das ikonografische Defizit ist Teil dieser "semidepressiven Konstruktion", wie Peter Sloterdijk die EU einmal genannt hat. Ein Verweis darauf, dass die Konstruktion selbst bereits depressiv, antriebslos, leidenschaftslos sei (und nicht aufgrund eines Funktionsmangels solches erst hervorrufe).
Pathosvernichtungsmaschine scheint da eine neutralere Formulierung, da sie - im Unterschied zur Depression - offen lässt, ob dies nun gut sei oder nicht. Denn es ist ja so: Egal, was man reintut in die EU, es kommt kleingehäckselt als Regelwerk wieder raus. Der Architekt Rem Kolhaas und sein Think Tank AMO hatten mal sämtliche Gesetze der EU in einem Buch gesammelt. Das war schon vor Jahren 5,5 Meter dick. Natürlich killt das jedes Pathos und jede Leidenschaft. Das ist nicht gerade sexy. Aber hat diese Verwandlung von historischen Geschehnissen in administrative Prozesse nicht auch etwas Erleichterndes? Zumal es sich eben nicht um eine "dunkle Maschine" handelt, wie Johannes Voggenhuber in einem Interview einmal sagte. Dunkle Maschine beschwört etwas viel zu Dämonisches.
Aber Brüssel lässt sich nicht als modernes Monster imaginieren. Nicht, weil es so nett wäre, sondern weil es eine Machtform ohne großes Subjekt ist. Eine, mit einer zuverlässigen Pathosbändigung. Das mag man kleinmütig nennen. Das mag nicht immer ein Zugewinn an Vernunft sein - wir alle kennen die Exzesse der bürokratischen Regulierung. Aber es kann einen Vernunft-Mehrwert haben. Gerade jetzt. Gerade in der Krise.
Nicht gerade euphorisierend? Ja. Aber wir leben nun mal in postheroischen Zeiten - was nicht das Schlechteste ist -, und ein dementsprechend postheroisches Konstrukt ist die EU. Das mag langweilig sein, aber jede Leidenschaft ist hier mindestens ebenso langweilig, gerade weil sie ein Schuss ins Leere ist. Die Nation - das war eine Erzählung, die noch ein Maß an Pathos vertragen konnte, es sogar gebraucht hat. Die Beschwörung einer Einheit, einer inneren Bindung. Aber die EU?
Der ganze Diskurs um die europäische Identität läuft falsch, weil er stets ein Rückgriff in das Arsenal der historischen Identitäten ist. Ob dabei die spezifische kulturelle Identität Europas beschworen wird oder die des christlichen Abendlandes - in jedem Fall zielt dies auf ehemals volle Identitätsformen, die heute nur als Nostalgie und Folklore zu haben sind. Aber mit dem, was Europa als Europäische Union ist, hat das rein gar nichts zu tun. Dabei darf man nicht übersehen, dass die EU gerade über die Absenz solcher Identitäten funktioniert. Die Pathosvernichtungsmaschine braucht keine pathetischen Identitäten.
Dieses Europa braucht keine leidenschaftlichen Europäer. Sie kennen diese Leute, die sich stets glühend als bekennende Europäer bezeichnen. Nun, tatsächlich ist dies ein Widerspruch in sich. Aber warum sehen wir das immer nur als Defizit? Warum bejammert man stets die mangelnde emotionale Bindung an die Union, ist dies doch genau das adäquate Verhältnis zu solch einer postheroischen und postemotionalen Konstruktion.
Neue Subjekt-Techniken
Was für Subjekt-Techniken braucht es also für europäische Subjekte? Es braucht keine Einübung in Leidenschaft und Euphorie, sondern nur ein Training in Selbstverständlichkeit und Evidenz.
Wie dieses Kind, das bei einer Schulfeier die Europahymne sang und auf die Frage, kannst du auch die österreichische Hymne, erstaunt fragte: Gibts die? Während mich meine Freundin bei der Erzählung dieser Begebenheit an der Stelle mit der Europahymne mit der Frage unterbrach: Ach, die gibts? Es ist eindeutig nicht die Generation, die 40 Jahre die Wüste der politischen Leidenschaften durchquert, die in Europa ankommen wird. ISOLDE CHARIM
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