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Sekt muß man nicht im Westen kaufen

Ostdeutsche kaufen wieder Ostprodukte und bescheren der Konsumgüterindustrie einen Aufschwung / Westmärkte hingegen bleiben der Ostindustrie noch immer fest verschlossen  ■ Aus Berlin Donata Riedel

Ist Ostdeutschland heute eine industrielle Wüste mit nurmehr wenigen Kathedralen der Produktion? An diesem Horrorszenario, das in politischen Sonntagsreden den „Silberstreif am Horizont“ des Jahres 1991 abgelöst hat, ist leider was dran. Trotzdem: Die ostdeutsche Entwicklung verläuft keineswegs überall und immer nur zum Schlechteren. Die Wirtschaftsforscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), des Instituts für Weltwirtschaft und des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle jedenfalls verweisen in ihrem neuesten Bericht über die Anpassungsfortschritte Ost auch auf hoffnungsvolle Ansätze in den jungen Bundesländern.

Einen Aufschwung verzeichnen dabei Unternehmen, die für den Markt vor Ort produzieren. Nahrungs- und Genußmittel, Konsumgüter, die Bau- und die Telekommunikationsindustrie sowie Dienstleistungen werden inzwischen im Osten für den Osten hergestellt. Rotkäppchen-Sekt, diverse Biere, Spee-Waschmittel oder die Zigarette f6 haben sich ihre Heimatmärkte zu beachtlichen Teilen zurückerobert.

„Die Entwicklung geht dahin, daß Produktionen für den Nahabsatz ausgeweitet, solche für den Fernabsatz aber eingeschränkt werden“, lautet das Fazit der Wirtschaftsforscher. Denn fast allen Unternehmen, deren Produkte sich am Weltmarkt behaupten müssen, geht es schlecht. Überall dort, wo die Märkte gesättigt sind, scheint es für Ostfirmen nahezu unmöglich, Fuß zu fassen. Die Arzneimittelproduktion beispielsweise ging um mehr als die Hälfte zurück – weil sich auch die großen westlichen Pharmakonzerne einen Verdrängungswettbewerb liefern.

Erstaunlich gut steht dagegen die – allerdings stark geschrumpfte – Stahlbranche da, die in Westdeutschland stets zu den führenden Krisenbranchen zählt. Es sind vor allem italienische Investoren, die nach der Übernahme die Produktionsanlagen modernisiert haben und jetzt zunehmend auch westliche Märkte beliefern. Außerdem nehmen der ostdeutsche Schiffbau und die Reichsbahn für die Erneuerung des Schienennetzes ostdeutschen Stahl ab.

Kampagnen wie „Eßt mehr Ost“ oder „Kauft Ostprodukte“ zeigen Wirkung: So wiesen die Energieversorgungsunternehmen bei der Umstellung von Stadt- auf Erdgas darauf hin, daß ein westdeutsches Unternehmen Gasherde in Ostdeutschland produziert – was sich in Zuwachsraten der Branche Herd und Kochgeräte deutlich niederschlug.

Die dynamischste Ostindustrie ist indes der Bausektor, in dem mittlerweile ein Sechstel aller im Osten erwirtschafteten Werte erzielt wird. Dort haben inzwischen nicht nur die Stundenlöhne, sondern auch die Produktivität 75 Prozent des Westniveaus erreicht. Allerdings sahnen auf den vielen Ost- Baustellen auch westdeutsche und ausländische Unternehmen nicht zu knapp ab – und bereiten kleineren ostdeutschen Baufirmen sogar existenzbedrohende Schwierigkeiten.

„Beträchtliche Fortschritte“ fanden die Markt-Wissenschaftler im Dienstleistungssektor. Der Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen hat darin mehr „von unten“, also durch die Gründung neuer Unternehmen, stattgefunden als durch Privatisierung alter Unternehmen. Eine Ausnahme ist der Einzelhandel, der praktisch komplett an westdeutsche Handelsketten ausverkauft wurde. Immerhin aber ist der Einkaufstourismus der Ostdeutschen in die Altbundesländer fast völlig zum Erliegen gekommen, weil es in den jungen Bundesländern inzwischen ausreichend Geschäfte gibt.

Deutlich wird das Wachstum des Dienstleistungssektors an den Zahlen der Selbständigen, die von 50.000 vor der Wende auf heute 300.000 stieg; entsprechend dem Bevölkerungsanteil wären westliche Verhältnisse bei 450.000 Selbständigen erreicht.

Nach traditionellen Wirtschaftslehren dürfte es den Aufschwung der Dienstleistungen gar nicht geben: Wenn die industrielle Basis wegbricht, klappt normalerweise auch der Dienstleistungssektor zusammen. Die neuen Strukturen können nach Meinung der Wirtschaftsforscher darum nur dann aufrechterhalten werden, wenn es gelingt, im Osten einen tragfähigen Industriesektor aufzubauen – oder wenn der „breite Strom der Transferzahlungen aus dem Westen weiterfließt“.

Bzüglich der Beschäftigung warnen die Wirtschaftsforscher ohnehin vor „übertriebenen Hoffnungen“ auf die Dienstleister: „Die große Arbeitsplatzlücke läßt sich auf diese Weise nicht schließen“, heißt es in dem Bericht. Dazu müßten vor allem in der Industrie „in erheblichem Umfang Arbeitsplätze geschaffen werden“.

Danach aber sieht es nicht aus, denn „die Investoren sind bisher nicht davon überzeugt, daß Ostdeutschland ein guter Standort ist“ – es fehlen für Industrieprodukte, die nicht direkt dem Konsum vor Ort dienen, die Absatzmärkte. Und schon geplante Investitionsvorhaben werden, wegen der Rezession, gestreckt – oder gleich ganz aufgegeben.

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