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Sehnsucht im Plastikbecher

Der Dokumentar-Film Nonstop beobachtet Zufallsbegegnungen zwischen Zapfsäule und Kaffeautomat  ■ Von David Kleingers

Günthers Frau ist Zeugin Jehovas und glaubt an ein ewiges Leben. Pensionär Günther sieht das anders, deshalb flüchtet er täglich zu einer 24-Stunden-Tankstelle in Berlin-Mitte. Da wartet meist schon sein ehemaliger Arbeitskollege Rudi, der von seiner Lebensgefährtin verlassen wurde und viel lieber mit Günther an einem kleinen Plastiktisch Kaffee und Korn trinkt, als zu Hause die Decke anzustarren. Die beiden schlafgestörten Rentner gehören zum festen Inventar des neongefluteten Kassenraums, in dem sich immer wieder die gleichen Menschen zusammenfinden.

Einer dieser Stammgäste ist Regisseur Olafur Sveinsson, dessen Video-Dokumentation Nonstop von den zufälligen Konstellationen zwischen Zapfsäule und Kaffeautomat handelt. Da sind Werner und Peter, die als Taxifahrer bis zu 14 Stunden am Stück unterwegs sind, und daher genau wissen, was in Berlin nach 22 Uhr los ist: nämlich gar nichts. Oder José Cruz und José Santos, die portugiesischen Bauarbeiter mit 65-Stunden-Woche und Dumping-Lohn. Hinzu kommt ein junger Mann, der mittels Hormontherapie sein Geschlecht wechseln will und als Kenner der arabischen Küche auftritt. Später jedoch erfindet er sich als Faschist neu und verkündet: „Eher verrecke ich, als dass ich einen Döner esse.“ Und als freundliche Konstante des Geschehens agiert der unverwüstliche Tankwart, vielleicht der einzig wirklich zufriedene Mensch an diesem Ort.

Diese Aufzählung erinnert zunächst an gängige Sozialkitsch-Szenarien. Vor allem das Privatfernsehen hat sich in den letzten Jahren durch Nicht-Reportagen hervorgetan, in denen jede Wurstbude zum sozialen Brennpunkt und jeder Passant zum Paradiesvogel mutiert. Doch mit diesen populistischen Betroffenheits-Zockern hat Sveinsson nichts gemein, er ist weder paternalistischer Aufklärer noch effektheischender Voyeur. Vielmehr verbindet Nonstop unterschiedliche Traditionen des nicht-fiktionalen Films in einer Erzählung, die gleichermaßen respektvolle Distanz und emphatische Nähe zum Subjekt zulässt. So bleibt die Kamera ein unaufdringlicher Begleiter, der wahrgenommen, aber keineswegs hofiert wird. Nur diese konsequente Nicht-Einmischung ermöglicht privilegierte Momente, in denen die authentische Abbildung für einen entscheidenden Augenblick zur übergreifenden These transzendiert: Etwa wenn Peter fast beiläufig von Zukunftsangst spricht, oder Günther den Tod seiner Frau herbeisehnt. Daraus entsteht in der Montage eine Abfolge subjektiver Wahrheiten, die sich im einzelnen völlig widersprechen können, in ihrer Verknüpfung jedoch durchaus wahrhaftig sind.

Mit dem Verzicht auf Off-Kommentare, herkömmliche Interviews und wertende Einschübe entspricht Nonstop den grundlegenden Voraussetzungen des amerikanischen direct cinema der 60er Jahre. Aber im Gegensatz zu Dokumentaristen wie Albert und David Maysles entzieht sich Sveinsson nicht völlig dem Geschehen. Er ist der isländische Filmstudent aus der Nachbarschaft, zu dem der korpulente Werner in einem wunderschönen Moment sagt: „Deine Figur und mein Kopf obendrauf, ich würde Millionen verdienen.“

Für den Regisseur ist die Tankstelle also keine soziologische Petrischale, die es zu untersuchen gilt, sondern vielmehr Teil des eigenen Lebensraums. Den teilt er gleichberechtigt mit seinen Protagonisten, und sie lassen ihn im Gegenzug an ihrem Leben teilhaben. Und in dieser unausgesprochenen Übereinkunft liegt vielleicht auch das Geheimnis der provisorischen Zuflucht: Die Tankstelle ist ein buchstäblich zeitloser Ort, an dem niemand zwischen Tag, Monat oder Jahr unterscheidet. Diese temporäre Unverbindlichkeit ermöglicht menschliche Verbundenheit, und sei es nur für die Länge eines schlechten Witzes. Aber neben schlechten Witzen gibt es in der Plastik-Variante von Rick's Café Americain auch eine ehrliche und tiefe Sehnsucht: irgendwo ankommen zu dürfen.

Do, 20. (in Anwesenheit des Regisseurs) + Fr, 21. Januar, 20.30 Uhr, 3001

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