Seenotrettung im Mittelmeer: Handeln ohne Profit
Warum werden die Seenotretter kriminalisiert? Sie rufen Europa ein humanistisches Denken in Erinnerung, das die Festung Europa für überflüssig erklärt.
D ie Bilder, die auftauchen, wenn es heute um Seenotrettung geht, sind jene von Booten voller Menschen, die auf dem Meer herumirren. Sie sind wie das ferne Echo einer anderen Irrfahrt – jener des Odysseus.
Dessen Odyssee steht exemplarisch am Beginn der abendländischen Kultur. Jahrelang irrte der Grieche auf dem Heimweg von Troja nach Ithaka auf dem Meer herum. Es ist dies eine Geschichte von Grenzverletzungen und Strafe. Von Schiffbruch und Identitätsverlust.
Vor allem aber erzählt sie von jenen Verhaltensweisen, die für die damals aufkommende Kolonisierung lebensnotwendig sind: Gefahren auf sich nehmen, Strapazen aushalten, ins Ungewisse aufbrechen, das Ausgesetztsein ertragen. Aber das, was in der Antike eine Heldengeschichte war: der Held, der sich aufs Meer begibt, um sich zu finden; das, was eine abendländische Ermächtigungserzählung war, aus der das europäische Subjekt hervorging – das kehrt nun in umgekehrter Form zurück.
Carola Rackete hat die Falschen gerettet
Die Bedrängten, die Flüchtenden begeben sich nun in anderer Richtung aufs Meer. Aber trotz der Gefahren, der Strapazen und des Ausgesetztseins macht sie das heute nicht zu Helden, sondern zu jenen, die keiner will. Sie sind „Überflüssige“. Carola Rackete hat die Falschen gerettet. Hätte sie Europäer gerettet, wäre sie nicht verhaftet, sondern gefeiert worden. Menschsein reicht nicht fürs Leben. Das ist die erste Lektion.
Greifen die Retter dort ein, wo die europäische Flüchtlingspolitik versagt, wie man immer wieder hört? Das wäre die freundliche Variante. Tatsächlich besteht diese Politik nicht nur in der Uneinigkeit bei der Flüchtlingsverteilung, sondern vor allem auch in einer stillen Einigkeit: Einig ist man beim Ausbau der Festung Europa. Dies bedeutet Frontex – ein militarisiertes Grenzsystem. Dies bedeutet Verträge mit Akteuren vor Ort und seien es dubioseste Warlords. Wie etwa das Abkommen mit Libyen, das jene verheerenden Horrorlager ermöglicht, vor denen das UNHCR warnt.
Und dies bedeutet eine Gesetzgebung wie jene Salvinis, die die Seenotretter kriminalisiert. Die tatsächliche Anordnung lautet also nicht: Retter intervenieren dort, wo Europas Politik abwesend ist. Sie lautet vielmehr: Retter gegen die Festung Europa. Das sind die zwei Gesichter dieses janusköpfigen Kontinents.
Salvini ist nicht Kreon
Vielerorts wird Carola Rackete ob ihres entschlossenen Handelns gegen die Vorgaben der italienischen Autoritäten mit Antigone verglichen. Mit jener antiken Heldin, die den im Kampf gefallenen Bruder gegen den Erlass des amtierenden Herrschers Kreon dennoch bestattet. Wie Antigone folgte auch Rackete einem anderen Recht und stellte sich gegen den Befehl. Wie Antigone war auch sie bereit, sich der weltlichen Rechtsprechung zu unterwerfen.
Das ist ein Akt zivilen Ungehorsams: Man verstößt aus Gewissensgründen gegen rechtliche Normen und nimmt die Folgen seiner Handlung bewusst in Kauf. „Ich weiß, was ich riskiere“, meinte sie. Das ist ein Pflichthandeln. Ohne Profit. Es entzieht sich der Tauschlogik.
Wie bei Antigone ist es auch hier eine Gegenüberstellung von jung gegen alt (oder älter). Mann gegen Frau. Alte Seegesetze gegen neue Gesetze der italienischen Regierung. Aber an diesem Punkt bricht die Analogie wieder. Bei Sophokles’ „Antigone“ geht es um den Konflikt zweier unversöhnlicher sittlicher Ansprüche: jener der Familie auf Bestattung und jener des Staates auf Feindschaft. Salvini hingegen ist nicht Kreon.
Er hat die Rechtslage nach eigenem Gutdünken verändert mit seinem Dekret, welches die Einfahrt von NGO-Schiffen in italienische Gewässer untersagt. Ein Dekret, das sowohl gegen die italienische Verfassung als auch gegen das geltende Seerecht verstößt. Keine neue Sittlichkeit, sondern ein widerrechtliches Gesetz.
Warum aber werden die Retter kriminalisiert? Nicht wegen der paar Geretteten. Sondern wegen der Moral, die sie in Erinnerung rufen und die sie nähren (und die auch sie nährt, wie die Spenden belegen). Dieser humanistischen Moral bedarf die Festung Europa nicht. Sie ist überflüssig. Das ist die zweite Lektion.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“