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Seele gesucht

Noch nie stand das Gehirn so im Forschungsmittelpunkt wie in den letzten zehn Jahren. Doch die zentralen Fragen sind nach wie vor nicht beantwortet

von KATRIN JÄGER

Wer angestrengt nachdenkt, zermartert sich das Hirn, heißt es. Das Gehirn produziert aber nicht nur die Gedanken, sondern auch denjenigen, der diese Gedanken denkt: mich. Davon geht jedenfalls die Neurophilosophie aus. Dieser jungen philosophischen Richtung zufolge produziert das Gehirn seine Seele, also das Ich-Bewusstsein im Menschen. Ihr naturwissenschaftliches Pendant, die Neurobiologie, ist auf dem besten Wege dazu, die komplizierten Vorgänge, die die Seele hervorbringen, an echten Gehirnen experimentell nachzuweisen. Skeptiker werfen den Hirnforschern jedoch vor, fälschlicherweise von chemischen Hirnprozessen auf das Bewusstsein zu schließen.

Der Neurophilosoph Thomas Metzinger, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Mainz, charakterisiert das erlebte Ich-Gefühl als ein „Resultat von Informationsverarbeitungsvorgängen im zentralen Nervensystem“. Diese Vorgänge erschaffen das Ich quasi als virtuelles Organ. Eine zentrale Eigenschaft des Ich ist es, nicht zu bemerken, dass das Gehirn es produziert. Es verleugnet seinen eigenen Hersteller konsequent. Deshalb hat das Ich den Eindruck, die Welt um sich herum direkt mit seinen Sinnesorganen wahrzunehmen und seine eigenen Gedanken zu produzieren. Es hält sich für den großen Steuermann des Körpers, für die oberste Kontrollinstanz von Denken, Planen und Handeln.

Neurobiologen haben herausgefunden, dass nicht bewusstseinsfähige Hirnareale wie die Basalkerne und der Thalamus das Ich-Bewusstsein steuern. Aus ihnen kommen die Signale dafür, dass wir beispielsweise willentlich den Arm heben. Professor Gerhard Roth, Neurobiologe am Hirnforschungszentrum der Universität Bremen, ist es gelungen, experimentell nachzuweisen, dass die willkürlichen Handlungen auf „Einflüsterungen des Unbewussten“ zurückgehen. „Der Willensakt tritt auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat, welche Bewegungen es ausführen wird“, so der Hirnforscher. Dies ist das Ergebnis einer Reihe von Experimenten, bei denen die Testperson möglichst schnell einen linken oder rechten Knopf drücken musste, je nachdem, welches Hinweiszeichen leuchtete. Bildgebende Messverfahren machten Hirnaktivität sichtbar. Diejenigen Hirnareale, die unbewusste Handlungen produzieren, waren immer einen Tick vor denen aktiv, die das Bewusstsein herstellen.

Zuständig für die Bewusstseinsproduktion ist die Hirnrinde. Sie sieht aus wie das Innere einer Walnuss und liegt auf den anderen Hirnteilen wie eine Perücke auf dem Kopf. Das Ich-Gefühl kommt aus dem vordersten Teil der Hirnrinde, der präfrontalen Cortex. Dieses Ich-Zentrum ist beim Kleinkind im Alter von etwa drei Jahren ausgereift. Erst dann, so Roth, „lässt das menschliche Kind seine nicht menschlichen Primatengenossen hinter sich“. Der Säugling hingegen hat noch kein Ich-Bewusstsein und wird wie die Affenbabys von seinen Wahrnehmungen, Emotionen und automatischen Bewegungsmustern regiert.

Bewusstsein entsteht, indem unterschiedliche Hirnareale etwa 40-mal pro Sekunde ihre Aktivitäten in die Hirnrinde projizieren. Das Ich-Zentrum bündelt die Einzeleindrücke zu einem einheitlichen Gesamtbild, das wir als Ich-Erlebnis wahrnehmen. Meistens haben wir nur ein Ich. Aber unter unaushaltbaren Lebensbedingungen, oft in Verbindung mit sexuellem Missbrauch, versucht das Gehirn, den Leidensdruck mit einem Trick zu lindern. Anstelle eines Ichs bildet es mehrere Iche in seinem Körper aus, auf die es die Last verteilt. Diese Ich-Störung fasst die Psychologie unter dem Begriff Multiple Persönlichkeit zusammen.

Von ihrem Ziel, eine exakte Bewusstseinslandkarte des Gehirns erstellen zu können, sind die Neurowissenschaftler noch weit entfernt. Es sei aber nur noch eine Frage der Zeit. Dann, so meint Neurophilosoph Metzinger, ist das „subjektive Erleben ein Naturphänomen wie viele andere, ein Phänomen von großer Schönheit und Tiefe, aber eben auch ein entzaubertes Phänomen, eines, das uns keine prinzipiellen Rätsel mehr aufgibt. Dann würde der klassische Begriff der Seele endgültig zu einem leeren Begriff“.

Die Messverfahren zur biologischen Entschlüsselung der Seele haben sich im letzten Jahrzehnt erheblich verfeinert. Die Positronenemissionstomographie (PET) beispielsweise ist ein bildgebendes Verfahren, mit dessen Hilfe die Stoffwechselvorgänge im Gehirn sichtbar gemacht werden. Die Forscher spritzen in das Blut der Testperson eine schwach radioaktive Substanz. Dann löst der Proband eine bestimmte Aufgabe. An seinem Kopf sind Elektroden befestigt. Diese machen die dabei ablaufenden Hirnaktivitäten auf einem Computerbildschirm sichtbar. Die Neurobiologen gehen davon aus, dass in denjenigen Hirnarealen, die an der Lösung der Aufgabe beteiligt sind, der Stoffwechsel höher ist als in anderen Hirnbereichen. Diese Areale hebt das Monitorbild hervor.

Kritik an diesem Verfahren übt der Kölner Philosophieprofessor Günter Schulte. Er gibt zu bedenken, dass die Grundannahme, der Hirnstoffwechsel sei bei bewusster Hirntätigkeit erhöht, nicht bewiesen ist. Genauso gut könnte es sein, dass die Hirnzellen sich so auf die nächste Aufgabe einstellen und den Abfall einer früheren Arbeit beseitigen. Dann würde der Stoffwechsel nicht die bewusste Bewältigung einer Aufgabe anzeigen, sondern genau umgekehrt, das „Vergessen, Löschen einer Information bewirken“.

Schultes Kritik setzt an einem Grundproblem der Naturwissenschaften an, das sie selbst „explanatory gap“ nennen. Diese Erklärungslücke besteht darin, dass objektive Beobachtungen nicht mit dem Innenleben einer Person gleichzusetzen sind. Auch wenn die biochemischen Hirnprozesse bis ins Detail erforscht sein sollten, sagen sie nichts über die Inhalte subjektiven Erlebens aus. Für Schulte ist „das Objektive nur eine Seite der Welt; ich selbst bin auf der anderen“. Er wirft der Neurobiologie vor, zwar die physischen Bedingungen der Seele erforschen zu können. Daraus folge aber nicht automatisch, dass die Seele auch etwas Physisches sei.

Schon im vorigen Jahrhundert wies der Philosoph Arthur Schopenhauer auf das Hirnparadox hin. Danach ist das Gehirn, das der Hirnforscher objektiv untersucht, allein das Produkt seiner Vorstellung. Das erforschte Hirn gehört nämlich zu seiner eigenen, hirnproduzierten Wirklichkeit. Schulte bezeichnet deshalb die Hirnforschung auch als „Neuromythologie“. Sie erzähle Geschichten, die die Seele erklären sollen.

So betrachtet, erfüllt die Hirnforschung eine religiöse Funktion. Sie bietet ein Erklärungsmodell für die menschliche Existenz. Der Glaube an sie wirkt beruhigend, aber auch betäubend. Wer an den Hirnmythos vom Ich glaubt, dem springt vielleicht nicht ab und an die blitzartige Erkenntnis von der Ungeheuerlichkeit des eigenen Daseins in den Nacken. Für den Existenzialisten Schulte sind die großen Fragen wie die nach der Seele nicht dazu da, „um beantwortet zu werden. Wir bedürfen ihrer Ungewissheit, um geistig lebendig zu bleiben“, lautet sein Credo.

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