■ QUERBILD: Secrets and Lies
Einer der wenigen funktionierenden Prozesse im europäischen Filmmarkt scheint die Arbeitsteilung bei der Darstellung von Innenarchitektur und politischer Haltung zu sein. Mögen die Komödianten sich in Kohls Republik in Leonardo-Design wohlfühlen – Engländer beschimpfen Thatcher in besetzten Bruchbuden und spießigen Reihenhäusern. Es ist doch gut zu wissen, daß die Briten für Filme über Junkies, Obdachlose und Arbeiter zuständig sind, damit wir uns unglaublich über Kondome und die sie bewegenden Männer amüsieren können.
„Sie müssen nicht lächeln“, heißt es in London. So ringt Vorort-Fotograf Maurice den meisten seiner Kunden beim Posieren doch ein Lachen ab. In Maurices Verwandtschaft ist es längst schwieriger, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Lügen und Geheimnisse verbergen zwar Abgründe, doch eine glatte Oberfläche fehlt: Seine Frau ist einzig daran interessiert, die Wohnung mit Kleinbürger-Seelengemälde-Tapeten in einen Laura Ashley-Laden zu verwandeln. Seine Schwester Cynthia (die wunderbare Brenda Blethyn) verbringt dagegen in ihrer Außenklo-Bude die Zeit neben ihrem tristen Fabrik job damit, Tochter Roxanne mit Gejammer über deren Job als Straßenkehrerin und viel Geheul über die verpaßten Chancen ihres Lebens zu nerven. Einzig das Dasein der Optikerin Hortense (Marianne Jean-Baptiste, Foto) könnte ausgewogen sein. Hortense macht sich nach dem Tod der Adoptivmutter auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter – und das ist Cynthia. Das wäre allenfalls amüsant, gäbe es da nicht neben dem Hautfarbenunterschied – Cynthia weiß, Hortense schwarz – eine fertige Tochter, einen verklemmten Bruder samt frustrierter Schwägerin und vor allem die Klassenunterschiede und die damit verbundenen Verbitterungen und Empfindlichkeiten. Genug jedenfalls für Cynthia, ausgiebig zu heulen.
„Einen wilden, verrückten Aufschrei unserer Zeit“ hat Mike Leigh seinen Schauspielern versprochen. Damit dabei nicht alle Tränen auf einmal vergossen werden, weiß jeder – inclusive der Zuschauer – ein bißchen mehr als der andere und sagt es nicht. Beim gemeinsamen Grillen kommt es zum großen Showdown mit Tränen der Wut, Erleichterung und Verzweiflung. Und spätestens diese Ladung Gefühle erwischt einen selbst dann, wenn man die Geschichte bisher eher albern oder tränendrüsig gefunden hätte – dank der phantastischen Schauspieler.
Ein Geheimnis des Filmes ist, daß er das Publikum zwar zum Mitwisser der Lügen und Laster seiner Figuren macht, aber trotzdem keine denunziert. Liebevoll wird auch das grauenvollste Detail gezeichnet. Mike Leighs Fähigkeit zu präzisen Gesellschaftsportraits ohne Sozialkitsch funktioniert auch angesichts dieser Familie, in der die Folgen langer konservativer Regierung sich so richtig austoben.
Matthias von Hartz
Abaton, Neues Broadway, Zeise
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