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Schwimmende Stadtneurotiker

Bei den Enten ist im Gedränge der Großstadt das natürliche Fortpflanzungsverhalten zusammengebrochen. Hemmungsloses Geflügel ohne Privatsphäre  ■ Von Ute Scheub

Sieben kleine Entchen schlingern auf dem Lietzensee hinter ihrer Mama her. Plötzlich kommt ein Erpel von der Seite angeschossen, ein zweiter, ein dritter. Gemeinsam stürzen sie sich auf die Ente, hacken ihr in den Nacken, versuchen mit ihr zu kopulieren. Sie drücken sie unter Wasser. Drei gegen eine. Das Wasser spritzt. Die Küken piepsen. Endlich kriegt die Ente ihren Kopf wieder aus der Tiefe. Sie flieht. Sie denkt nicht mehr an die Küken. Sie haut ab. Sie rettet sich ans nahe Ufer. Dort hat sich inzwischen ein halbes Dutzend Zuschauer eingefunden. „Ein richtiges Tierdrama“, seufzt eine ältere Dame.

Wo ist der Notruf für vergewaltigte Enten? Wo ist die Polizei, die Entenschänder verhaftet? Wo bleibt die feministische Bewegung von Entenhausen mit Daisy Duck an der Spitze? Fehlanzeige.

Das ist ja genau die Ursache des Problems: Das ländliche Entenhausen, wo es noch überschaubar war und gemütlich zuging, existiert nicht mehr. Die Entenbevölkerung flieht aus den idyllischen Naturschutzgebieten und grünschillernden Ökotopen in die Großstadt. Dort mußte sie selbst mühsam nach Pflanzen, Froschlaich und Insekten suchen, hier aber wird sie tagtäglich mit Brotkrumen bis zum Abwinken verwöhnt.

Die Behörden mögen noch so viele Schilder hinstellen, schimmelndes Brot sei Schaden und Gefahr für Geflügel und Gewässer, die Menschen in ihrer ganzen wohlmeinenden Dummheit können es nicht lassen. Tagtäglich schleppen sie tonnenweise altes Brot an die städtischen Gestade, denn als fütternder Tierfreund fühlt man sich wohltuend wohltätig. Doch der Effekt ist desaströs: Das Gewimmel auf den städtischen Teichen und Tümpeln hat die Enten zu regelrechten Stadtneurotikern gemacht.

Ihr natürliches Fortpflanzungsverhalten sei im Gedränge der Großstadt zusammengebrochen, schrieb der Bonner Biologe Eberhard Schmidt schon vor Jahren in seinem Forschungsbericht „Stockenten auf Stadtteichen“. Früher, als es noch viel Platz gab, fanden in jedem Frühjahr die „Erpel-Turniere“ statt, in denen auch die Verteilung der Brutplätze geregelt wurde. Die Erpel in ihrem grünblauen Frühjahrsputz schillerten und plusterten sich auf und balzten um die Wette. Ihr Ziel: eine Ente auf Zeit, für eine Saison. Sobald im späteren Frühling Frau Ente dann wirklich Eier legte, brütete oder gar Junge ausführte, wurde sie selbstredend in Ruhe gelassen.

Doch jetzt kennen die stadtneurotischen Erpel kein Erbarmen mehr. Manchmal sind es sieben oder acht Machos, die sich auf eine einzige Ente stürzen. Dabei machen sie sich ihre biologische Besonderheit im Vogelreich zunutze: ihren Penis. Andere Vogelarten pressen beim „Vögeln“ ihre Ausscheidungsorgane zusammen, aber nur Enten, Schwäne und Gänse haben jenes Organ, das Vergewaltigung und Notzucht physisch möglich macht. Immer wieder sterben Enten bei solchen Machomanövern den Ertrinkungstod.

Daß die Erpel der Großstadt nicht einmal mehr vor kükenführenden Artgenossinnen halt machen, erklärt Biologe Eberhard Schmidt mit „Streß“. Weil es weder Abstand noch Sichtschutz zu den nächsten Nachbarn gebe, seien dem Erpel, der das Brutgebiet seiner Braut zu bewachen habe, alle Hemmungen abhanden gekommen. Früher undenkbar, jetzt alltäglich: Er fällt über fremde Entenmamas her und gibt auf diese Weise den Streß weiter. „Der Bruterfolg der Stockenten“, so der Biologe, sei auf diese Weise „erheblich beeinträchtigt“. Wie also üben wir Solidarität mit den Unterdrückten und Geknechteten Entenhausens? Ganz einfach: Indem wir unser vergammeltes Brot selber essen! Ute Scheub

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