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Archiv-Artikel

Schwer von der Rolle

Es war Liebe auf den ersten Blick: Ein goldrotes Ungetüm von Tapete will an die Wand

Niemand konnte ahnen, dass ich zufällig an jenem Schaufenster in der Berliner Oranienstraße vorbeischlendern und genau zur rechten Zeit den Blick wenden würde. Doch ich tat es und war tief getroffen: Lang ausgestreckt, lässig über eine Ottomane drapiert, lag sie da und geizte nicht mit ihren üppigen Reizen! Ihr blassgoldenes Rankenwerk prangte lasziv auf bordeauxrotem Seidenimitat. Und was das Tollste war: Eine Rolle kostete nur elf Euro! Kaum hatte ich diese Krönung aller Mustertapeten erblickt, stand felsenfest: Die längste Zeit hatte mein Blick an schalweißer Raufaser gehangen!

Vorsorglich zog ich eine Charlottenburger Expertin hinzu, deren ungetrübtes Auge die schlimmsten Entgleisungen beim Anbringen der Errungenschaft verhindern sollte. Der Anblick von Muster und Farbe bewirkte ein kurzes, fragendes Flackern, doch rasch klärte sich ihre Miene: „Die ist ja der Hammer!“ Nach diesem frischen Urteil war ich überaus erleichtert.

Die Tapete selbst dagegen wurde schwerer und schwerer, als wir sie mit vereinten Kräften abrollten. Anfangs grinsten wir über die immensen Mengen extrastarken Kleisters und riesiger Zusatzdosen Klebekraftverstärkers, die mir der Verkäufer aufgenötigt hatte. Doch das war gut so, denn Wand und Tapete mussten mit einer dicken Kleisterschicht eingestrichen werden, damit überhaupt der Hauch einer Chance bestand, eine bleibende Verbindung anzubahnen. Zitternd auf der wackelnden Leiter ergriff ich die erste kunstvoll gefältelte Bahn, um ihr oberes Ende unter die Stuckleiste zu setzen und hatte – flups – nur noch zwei briefmarkengroße Ecken zwischen den Fingerspitzen. Die Schwerkraft hatte zugeschlagen.

Ein aus Zwirn und einem Flaschenöffner improvisiertes Lot zeigte, das alles soweit in demselben war, als Bahn eins endlich hing. Doch schon bei der zweiten drohte uns der Nervenzusammenbruch. Der seitliche Ansatz des Musters passte nicht! Laut erschollen unsere Flüche, war doch die Tapete offensichtlich falsch geliefert worden! Lauter teure Fehldrucke auf Rollen! Wir tobten. Alles war in Frage gestellt.

Erst beim handgemahlenen Espresso kam uns gestressten Gelegenheitstapezierern die Erleuchtung. Weil das Muster dieser Tapete, wie nebenbei jedes Muster, auf die ewige Wiederkehr des Gleichen hin berechnet war, musste jede neue Bahn oben mit derselben Stelle des Rankenwerks beginnen. Dann passte es links und rechts automatisch. Kleinlaut ob dieser banalen Erkenntnis schnitt ich einen Streifen der eingekleisterten Bahn ab. So passte sie wenigstens oben. Das unten fehlende Stück konnte in halbstündiger Operation mit dem Messer passgenau ergänzt werden, was dem Verlauf unserer Unternehmung wieder Aufschwung gab. Bald kamen die Ansätze unbeschwerter, und außer gelegentlichen Einrissen und bedenklichem Ausgleiten auf der Leimkaskade von Leiter geschah bis zum Versiegen des Kleisters nichts Dramatisches mehr.

Gähnend äugte die Expertin und mich am nächsten Werktag die wild zerklüftete Fensterfront an. Für einen Moment überlegte ich, das Problem auf unkonventionelle Weise zu lösen. Dann aber siegte das Traditionsbewusstsein. Wir ließen die Fenster frei. Beschämend langsam, immer wieder in neue, verworrene Berechnungen verstrickt, quälten wir uns über diese knapp sechs Meter messende Durststrecke, deren Schwierigkeit in Rundbögen und Vermeidung massiven Verschnittes bestand. Unbedingt wollte ich eine der zehn Rollen originalverpackt wieder zurückgeben, um die Kosten für den zusätzlichen Leim hereinzuholen. Die Expertin konnte selbst durch doppelte Espressogaben kaum noch am Einschlafen gehindert werden. Ich dagegen fühlte mich von den Ranken des Musters wie von glühenden Fühlern verfolgt und vorangetrieben.

In Tieftrance wurde weitergeklebt, stillschweigend und ohne Murren ging es durch die letzten zehn Bahnen. Nach zwanzig Stunden Gesamtwerkelzeit schlug die folienverhängte Standuhr Mitternacht. Sprachlos rieben wir uns die verkleisterten Augen. Es war geschafft! Wir verabschiedeten uns, und ich nächtigte erschöpft an Ort und Stelle, dem Ersticken nahe. Fenster öffnen durfte ich nicht, denn Luftzug ist Gift für frisch geklebte Bahnen. Deutlich hörte ich im Schlaf die Tapete atmen.

Zur Raufaser, so viel ist klar, führt kein leichter Weg zurück. Weder lässt sich „die Neue“ ablösen noch kann man sie übertapezieren. Eine abwaschbare Tapete mit Klebekraftverstärker wird man so einfach los wie eine im Vollrausch georderte Tätowierung. Doch kein Gedanke daran. Ich war und bin schwer von der Rolle. TOM WOLF