Schwedens Umgang mit Waldgebieten: Land der übernutzten Wälder

Schweden will der erste fossilfreie Wohlfahrtsstaat werden. Nur: Die riesigen Waldgebiete werden jetzt für Biotreibstoffe gerodet.

Ein Holzvollernter im Wald.

Für Biotreibstoff gefällt? Ein Holzvollernter in einem schwedischen Wald Foto: Marius Schwarz/imago

STOCKHOLM taz | Für zwei ihrer freitäglichen Schulstreiks meldete sich Greta Thunberg zuletzt aus den Wäldern Schwedisch-Lapplands. Fotos auf ihrem Twitter-Account zeigen sie mit ihrem „Skolstrejk för Klimatet“-Schild auf einem Kahlschlag und zusammen mit anderen DemonstrantIn­nen. Sie protestieren gegen die Waldpolitik des schwedischen Staats. Schweden „eliminiert nicht nur Wälder und Kohlenstoffsenken“ twitterte Thunberg. „Sondern auch Geschichte, Zukunft und Traditionen der Samen.“

Vor allem das staatliche Forstunternehmen Sveaskog, der größte Waldeigentümer des Landes, holzt derzeit in Nordschweden auch wertvolle Altwälder ab. Seit dem Frühjahr gibt es anhaltende Proteste dagegen. Die AktivistInnen versuchen, die Rodungen zu stoppen, indem sie Zufahrten blockieren, Plattformen in den Baumkronen bauen und sich an Forstmaschinen festketten.

Abgesehen von den Folgen der Entwaldung für Klima und Umwelt geht es ihnen auch darum, die Existenzgrundlage der samischen Urbevölkerung zu retten. Von einem „Tiefstpunkt“ für Schwedens Waldpolitik spricht Dima Litvinov von Greenpeace: „Schweden hat nur noch sehr wenig alten, wirklichen Wald und die Wälder, die Sveaskog fällen will, gehören zu den letzten Naturwäldern Schwedens.“

Die Regierung in Stockholm hat sich ehrgeizige Klimaziele gesetzt: Schweden soll „weltweit erster fossilfreier Wohlfahrtsstaat“ werden und seinen Klimagasausstoß bis spätestens 2045 auf null reduzieren. Wie passen die verstärkten Waldrodungen dazu? Die Kahlschläge, die „nicht nur für die Biodiversität katastrophal sind, sondern zu einer Zeit, in der wir jede mögliche Kohlenstoffsenke maximieren müssen, auch für das Klima“, wie Thunberg der rot-grünen Koalition zu Recht vorwirft.

Mit einem Rechentrick: Schweden produziert derzeit etwa so viel CO2 mit dem Verbrennen von Biomasse wie mit dem Einsatz fossiler Brennstoffe. Um die Klimaziele zu erreichen, soll der Anteil von Biotreibstoffen, die aus Holz gewonnen werden, künftig weiter kräftig anwachsen. Denn in der offiziellen Statistik wird deren Klimagasausstoß mit null ausgewiesen: Das CO2 werde ja von neu wachsenden Bäumen wieder absorbiert. Die Verbrennung sei also „klimaneutral“.

Mehr Holzverbrennung ist schlecht fürs Klima

Das gilt allerdings allenfalls für einen Zeitraum von einigen Jahrzehnten – wenn das Klima mitspielt und die neu gepflanzten Bäume nicht unterwegs vertrocknen oder beim nächsten Waldbrand abfackeln. Dummerweise hält sich das CO2 aus aktueller Biomasseverbrennung nämlich nicht an die Theorie von der Klimaneutralität, sondern heizt die Erdatmosphäre zunächst einmal weiter auf. Mehr Holz aus den Wäldern zu holen und damit deren Funktion als Klimagassenken zu vermindern, sei deshalb genau der falsche Weg, die akute Klimakrise zu lösen, sagt Bengt-Gunnar Jonsson, Biologieprofessor an der Mittelschwedischen Universität: Im Gegenteil müsse mehr Wald stehen bleiben.

Doch die kurzfristigen ökonomischen Interessen von Forstwirtschaft und holzverarbeitender Industrie wiegen in Schweden immer noch schwer. Deshalb verbittet sich Schweden auch jede Einmischung Brüssels in die eigene Waldpolitik. Die Mitte Juli präsentierte Waldstrategie der EU-Kommission lehnte Stockholm umgehend ab.

Tomas Lundmark, Universität Uppsala

„Die Erwartungen an den Wald sind unrealistisch.“

Herman Sundqvist, der Generaldirektor der staatlichen Forstbehörde Skogsstyrelsen, warnte vor „extrem großen Konsequenzen für die Forstwirtschaft“, wenn man beispielsweise auf Kahlschläge und den Einsatz schwerer Forstmaschinen verzichten oder bei Rodungen auf die Brutzeit der Vögel Rücksicht nehmen müsse, wie die EU fordert. „Es wäre schlimm, wenn man uns hindern wollte, den Wald für Bioenergie zu nutzen“, sagte auch der sozialdemokratische EU-Minister Hans Dahlgren.

Schwedens Wälder sollen für alles liefern: Holz für Wärme- und Treibstoffproduktion. Holz als Baustoff, der im Hausbau zunehmend Beton und Stahl ersetzen soll. Und auf Holzbasis sollen Produkte beruhen, die bislang aus Plastik und Baumwolle gefertigt werden. Wie der Wald das schaffen und zusätzlich noch seine Funktion als Kohlendioxidspeicher bewahren kann? Gar nicht, denn der Wald reiche nun einmal nicht für alles, sagt Tomas Lundmark, Professor für Waldwirtschaft an Schwedens Landwirtschaftsuniversität SLU in Uppsala: „Die Erwartungen an den Wald sind schlicht und ergreifend unrealistisch.“ Derzeit werde das Tempo bei den Rodungen rücksichtslos hochgefahren, um den wachsenden Bedarf zu decken.

Abrodung nimmt zu

94 Millionen Kubikmeter Holzrohware wurden 2019 in Schweden abgeholzt – die vorläufigen Zahlen für 2020 liegen etwa auf gleichem Niveau. Das ist die dritthöchste Menge, seit 1942 mit der entsprechenden Statistik begonnen wurde, und der höchste Wert seit 2007. Diese Menge konnte nur erreicht werden, weil immer jüngere Wälder gerodet werden und die Fläche der geschützten Wälder stetig schrumpft.

Noch nie hat es in Schweden so wenig Altwälder gegeben wie heute. Gleichzeitig verarmt die biologische Vielfalt mehr und mehr. Allein die Zahl der vom Aussterben bedrohten Arten, die von Waldumgebung abhängig sind, ist in Schweden seit 2015 um 13 Prozent gestiegen, zeigt ein Report des WWF aus dem vergangenen Jahr.

Die bisherigen Schutzmechanismen haben sich als völlig unzureichend erwiesen. Verschärfen will die Regierung sie aber nicht. Wie man in Schweden ja sowieso immer gern eher auf Empfehlungen statt auf Zwang und Verbote setzt, gilt auch in dem seit 1993 geltenden Forstwirtschaftsgesetz für Waldbesitzer grundsätzlich das Prinzip „Freiheit mit Verantwortung“. Weite Interpretationsspielräume und fehlende Sanktionen haben dazu geführt, dass sich die Waldkonzerne bei ihrer Waldbewirtschaftung nur ausnahmsweise von der Rücksicht auf Umwelt und biologische Vielfalt bremsen lassen.

37 Prozent aller Abholzungen seien gesetzeswidrig, beklagte schon 2011 ein Untersuchungsbericht. Konsequenzen habe das nicht, weil die Vorschriften so konstruiert seien, dass kein Gericht eine Strafe aussprechen könne. Forstsiegel wie FSC und PEFC hätten sich sowieso als zahnlos erwiesen. Aus „Freiheit mit Verantwortung“ sei in der Realität „Freiheit ohne Verantwortung“ geworden. Zehn Jahre später ist das Urteil eher noch vernichtender.

Von einer „totalen Havarie“ spricht der Waldbiologe Sebastian Kirppu: „Die schwedische Forstwirtschaft ist aus ökologischer Sicht weder umweltfreundlich noch nachhaltig, und sie ist es nie gewesen.“ WWF-Waldexperte Peter Roberntz kritisiert: „So wie in Schweden die Forstwirtschaft historisch und aktuell betrieben wird, geht es in die falsche Richtung.“

Der Markt wird es nicht lösen

Skogsstyrelsen geht davon aus, dass das Potenzial der schwedischen Wälder nahezu ausgeschöpft ist. Bis 2050 lasse sich die Holzernte nur noch minimal über das jetzige Niveau hinaus, nämlich allenfalls auf 102 Millionen Kubikmeter jährlich steigern. Aber auch das nur für den Fall eines für das Waldwachstum positiven Klimaeffekts. Allein für den wachsenden Bedarf an Bioenergie rechnet man aber mit einer um 80 Millionen Kubikmeter höheren Nachfrage an Holzrohware: Also etwa 175 Millionen Kubikmeter. Und dabei sind künftige Nutzungen, für die man auch noch gerne auf den Wald zählen möchte, noch gar nicht mit eingerechnet.

Eine im letzten Herbst veröffentlichte Studie der SLU warnt davor, die Zukunft des Waldes weiterhin der Verantwortung der sogenannten Marktkräfte zu überlassen. „Die Abholzung schutzwürdiger Wälder im großen Stil zu erlauben, wäre eine katastrophale Maßnahme, die sämtliche Artenschutz- und Klimaschutzziele untergräbt“, sagt Angelika Krumm, Papierexpertin von Robin Wood. „Eine Regierungspolitik, die nur die Profite der Holzwirtschaft bedient, verspielt unsere Zukunft.“

Ebenso wie in den drei vorangegangenen Jahren führt Schweden auch 2021 den „Klimaschutz-Index“ von Germanwatch, dem New Climate Institute und dem Climate Action Network an, auf den es Deutschland in diesem Jahr nur auf Rang 19 geschafft hat. Zu Recht? „Zu behaupten, dass Schweden mit seinen derzeit unterdimensionierten Klimazielen und einer unzureichenden Politik die Führung bei der Gestaltung einer klimaneutralen nachhaltigen Wohlfahrtsgesellschaft übernehmen könnte, ist schlichtweg irreführend“, lautet das Fazit einer aktuellen Analyse von Energiexpertin Åsa Sohlman und Siv Ericsdotter vom Stockholm Resilience Centre.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.