Schwarze Pädagogik in Hamburg: Schulen zeigen Kinder an
In Hamburg müssen Schulen Fälle von Gewalt der Polizei melden. Schon Neunjährige werden dann bei der Kriminalpolizei zum Gespräch vorgeladen.
Immer wieder hätte sie ihrem Sohn versichern müssen, dass er nicht ins Gefängnis kommen werde. Eigentlich hatte seine Schule nur einen Vorfall gemeldet, an dem Leo beteiligt war.
Weil er dabei aber einen Gegenstand in der Hand hatte, verbuchte die Hamburger Schulbehörde den Vorgang als gefährliche Körperverletzung. Es reicht dafür schon aus, in einer Konfliktsituation einen Stift oder einen Schlüssel in der Hand zu haben. Heike Schmidt will den Vorfall zum Schutz ihres Kindes nicht konkreter beschreiben. Die Mutter stört am meisten, dass Leo – obwohl er laut Gesetz strafunfähig ist – zur Polizei soll.
Auf Nachfrage erklärte ihr die Polizei, dass die Anzeige zwar eingestellt werde, ihr Kind aber im Polizeicomputer für mehrere Jahre aktenkundig bleibe.
Kinder unter 14 Jahre gelten laut Paragraf 19 des Strafgesetzbuch als schuldunfähig. Die Polizei kann sie aber vernehmen, um Gefahren aufzuklären.
Hamburgs Schulen haben im Schuljahr 2015/16 202 Gewaltvorfälle gemeldet. 77 Tatverdächtige, die vorschriftsgemäß eine Strafanzeige zu erwarten hätten, waren Grundschulkinder.
Die Gewalt an Schulen geht jedoch laut Statistik der Unfallkassen seit 1997 zurück –bei leichten Fällen um 44 Prozent, bei schweren Fällen sogar um 62 Prozent.
Dass Schulen strafunmündige Kinder unter 14 Jahren bei der Polizei anzeigen, kam in Hamburg bereits öfter vor, seit ihnen im Jahr 2009 ein umfangreiches Meldesystem auferlegt wurde. Die zugehörige Richtlinie wurde im September nochmals verschärft.
Seither sind Schulleitungen bei Delikten wie Raub oder gefährlicher Körperverletzung, wenn etwa mehrere Schüler einen Mitschüler schlagen oder ein Gegenstand involviert ist, zur Anzeige aufgefordert. In einem Schreiben an die Schulleiter bemängelt die Behörde, dass im Schuljahr 2015/16 nicht jeder gemeldete Gewaltvorfall wie vorgeschrieben tatsächlich angezeigt worden sei: „Sie haben als Schulleitung dabei keinen Ermessensspielraum“, schreibt die Behörde.
Schulbehördensprecher Peter Albrecht begründet diese Praxis damit, dass die Polizei besonders bei Kindern unter 14 Jahren helfen könne, um „Regelverstöße und Verletzungen als unzulässiges Verhalten zu thematisieren“. Außerdem könne die Polizei die Gefährdungslage prüfen – und gegebenenfalls „an das Jugendamt weiterleiten“.
In bestimmten Fällen sei der Kontakt zur Polizei wichtig für die Wahrnehmung von Realität, sagt auch Michael Schulte-Markwort, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Eppendorf. „Wenn bei uns in der Klinik ein Kind etwas gestohlen hat, bestehen wir drauf, dass es eine Selbstanzeige macht.“ Die Polizei habe mittlerweile Jugendbeauftragte, die sehr gut geschult seien.
Doch eine Kindertherapeutin, die mit mehreren angezeigten Schulkindern zu tun hatte, sieht das anders: „Es geht bei dieser Praxis darum, den Kindern und ihren Eltern Angst einzujagen“, kritisiert die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will.
Sie wertet die Hamburger Praxis als eine Form struktureller Gewalt und „übler Schwarzer Pädagogik“ gegen Kinder. Der Kriminologe Christian Pfeiffer bezeichnet das Vorgehen als „absurd“. „Es macht keinen Sinn, mit Strafanzeigen Druck zu erzeugen, es ist Sache der Behörde, kindgerecht zu reagieren.“ Denn die Schule sei, ähnlich wie die Familie, ein geschützter Raum, auf den ein Kind vertraue.
Heike Schmidt hat den Termin bei der Polizei verstreichen lassen. Dazu rät auch der Strafrechtsanwalt Marc Wandt. Es gebe keinerlei Zwang, bei der Polizei auszusagen, sagt er. „Ich würde Eltern raten, anzurufen und zu sagen, dass man nicht kommt“.
Die Pflicht zu erscheinen gebe es nur bei staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Vernehmungen. Hierzu komme es im Verfahren gegen strafunmündige Kinder jedoch fast nie.
*Name geändert
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