: Schulszenen aus Niederchina
■ Neu im Kino: Mit seinem Film „Keiner weniger“ lößt Zhang Yimou starke Emotionen beim Publikum aus
28 SchülerInnen verschiedenen Alters drängeln sich in einen Schulraum, dessen Dach undicht ist. Vor ihnen als einzige Lehrkraft ein 13-jähriges Mädchen, dass kaum mehr kann und weiß als sie. Das einzige Lehrmaterial ist die Schulkreide, und auch die ist knapp. Und das größte Problem ist, das immer mehr SchülerInnen wegbleiben, weil ihre Familien so wenig verdienen, dass auch die Kinder mitarbeiten müssen. So sieht Armut aus.
Es geht rau zu in der Einöde von Xinjiang in Westchina. Und diesen steten, an die Substanz gehenden Mangel zeigt der Regisseur Zhang Yimou in „Keiner weniger“ mit einer dem Thema angemessenen stilistischen Kargheit, die uns so nah an die Personen und Verhältnisse heranführt, dass der Film große Emotionen auslöst.
Wie alles andere auch an diesem Film ist die Geschichte betont einfach gehalten: Weil der Dorflehrer eine wichtige Reise antreten muss, wird in Shuixian die junge Wei Minzhi als Aushilfslehrerin angestellt, obwohl sie selber eigentlich noch auf eine Schulbank gehört. Ihr Unterricht ist dann auch eher hilflos komisch als kompetent, und schnell zeigt sich, dass sie nicht besonders helle, dafür aber extrem dickköpfig ist.
Als wichtigste Maßregel hat der Dorflehrer ihr eingebleut, dass sie während ihres Vertretungsmonats ja keinen Schüler mehr verlieren soll. Als ein kleiner Lausebengel verschwindet, um in der nächsten Stadt zu arbeiten, fährt Wei Minzhi ihm flugs hinterher, um ihn zurückzuholen. In der Stadt ist sie das Landei, das so ziemlich alles falsch macht, aber schließlich durch schiere Sturheit und Ausdauer sogar die in China eigentlich allmächtige Bürokratie besiegt, um zum Schluss heldenhaft mit Ruhm, Schüler und ganz viel Kreide ins Dorf zurückzukehren.
Zhang Yimou, der im Westen durch solche aufwändigen und raffiniert stilisierten Filmepen wie „Rote Laterne“ oder „Die Geschichte der Qiuju“ bekannt wurde, hat hier zurückhaltend in einem quasidokumentarischen Stil gearbeitet. Alle Auftretenden sind Laien, und sie spielen die Rollen, die sie auch im tatsächlichen Leben ausüben: Der Lehrer ist Lehrer, der Bürgermeister Bürgermeister des Dorfes Shuiquan, der Direktor eines Fernsehsenders ist Programmchef des Volksfernsehsenders in Jiangjiakou. Wei Minzhi heißt tatsächlich Wei Minzhi, und auch wenn die Geschichte erfunden ist, merkt man schnell, dass dieses kleine Mädchen tatsächlich extrem eigenwillig und zäh ist.
Manchmal wird man ein wenig ungeduldig, wenn der Groschen bei ihr partout nicht fallen will, aber trotzdem (oder gerade deshalb) ist man schnell auf ihrer Seite und folgt ihr mit zunehmender Sympathie zuerst in die Schulklasse voller schreiender Kinder und dann in die groß Stadt. Diese Protagonistin ist Zhang Yimous große Trumpfkarte: Durch sie läuft die Dramaturgie so kräftig, leicht und unauffällig, dass er sich auf die realistischen Bilder aus der westchinesischen Provinz konzentrieren kann.
Mit Wei Minzhi bekommen wir einen sehr intensiven, ungeschminkten Eindruck vom Dorf und von der Stadt, und es gelingt Zhang Yimou, authentische Bilder vom ganz normalen Alltag einzufangen. Oft hat er mit versteckter Kamera gedreht, die DarstellerInnen improvisieren meist, und es gibt viele wahrhaftige Momente in „Keiner weniger“, die auch der beste Regisseur mit den professionellsten SchauspielerInnen nicht hätte einstudieren können.
Stilistisch überrascht Zhang Yimou mit diesem Film, aber in der Sicht auf die Heldin nicht, denn er hat in all seinen Filmen starke Frauen in den Mittelpunkt gesetzt. Bis zu „Keiner weniger“ wurden diese immer von seiner Muse Gong Li verkörpert, und der Grund dafür, dass er jetzt mit Laien arbeitete, könnte darin liegen, dass Gong Li sich professionell und privat von ihm getrennt hat. Wilfried Hippen
Cinema tägl. 19 Uhr
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