: Schuld an der Rezession ist der Winter
Rexrodt freut sich auf den Aufschwung / Statistiker konstatieren schwache Konjunkturergebnisse / Die Ostwirtschaft wächst schneller: Bauboom und neue Anlagen geben Impulse ■ Von Erwin Single
Berlin (taz) – Zahlen haben es bekanntlich in sich. Um 7,4 Prozent, teilte das Statistische Bundesamt gestern lapidar mit, sei das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Halbjahr 1993 gestiegen. Für die erste Jahreshälfte hatten die Wiesbadener Rechenkünstler einen Zuwachs um 6,7 Prozent ermittelt – das macht summa summarum für das letzte Jahr ein Wachstum von 7,1 Prozent. Ist das der langersehnte Aufschwung in Neufünfland?
Nun ja, Günter Rexrodt (FDP) hat es irgenwie schon immer gewußt. Penetrant versucht der Wirtschaftsminister, jeden Zweifel zu zerstreuen: „Die Talsohle ist durchschritten“, rief er am Dienstag abend in Düsseldorf Mitgliedern des CDU-Wirtschaftsrates zu. In diesem Jahr, fuhr der Minister fort, möge es zwar noch einige Rückschläge geben, aber steigende Auslandsaufträge, eine stabilisierte Produktion und rückläufige Preissteigerungsraten sprächen dafür, daß sich die deutsche Wirtschaft wieder erhole. Rexrodts Tip: Das BIP werde 1994 wieder um 1 bis 1,5 Prozent zulegen.
Bei soviel Optimismus spielt auch keine Rolle, daß die westdeutsche Wirtschaft im vierten Quartal 1993 gegenüber dem Vorjahresquartal noch einmal um 0,9 Prozent, im gesamten letzten Jahr sogar um 1,9 Prozent schrumpfte. Für das gesamtdeutsche BIP ergibt sich damit, trotz des Zuwachses im Osten, ein Rückgang um 1,2 Prozent. Mit 148,9 Milliarden Mark machte das ostdeutsche BIP im 2. Halbjahr nur 9,2 Prozent der gesamtdeutschen Wirtschaftsleistung aus – damit konnte das Minus im Westen keineswegs kompensiert werden.
Das Beste an Statistiken aber ist, daß man sie beliebig interpretieren kann. Während Rexrodt den frostigen Winter für den neuerlichen Einbruch verantwortlich macht, sind sich die Experten über die Entwicklung uneins. Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) etwa will man noch lange keinen Aufschwung erkennen. So sei die Investitionsnachfrage in den letzten Monaten kontinuierlich gesunken, und es bestehe die Gefahr, daß die neuen Steuer- und Abgabenerhöhungen sowie die Lohnabschlüsse privaten Verbrauch und Investitionsneigung weiter absinken lassen.
Auch der angebliche Aufschwung Ost entpuppt sich schnell als Fata Morgana: Schließlich ist das Niveau der dortigen Wirtschaftsleistung nach wie vor erschreckend niedrig; so beträgt die Arbeitsproduktivität – gemessen am BIP je Erwerbstätigen – mit 24.300 Mark lediglich 48,2 Prozent des Westwerts. Zudem machen die Bauinvestitionen, meist aus öffentlichen Töpfen finanziert, mit einem Plus von 23,3 Prozent (2. Hälfte 93) den Großteil des Wachstumsschubs aus. Die Ausrüstungsinvestitionen, großzügig subventioniert, stiegen um 10,0 Prozent – aber das reicht noch lange nicht für einen selbsttragenden Aufschwung. Die Arbeitslosigkeit klettert indes unentwegt weiter, Investoren ziehen sich zurück, die Banken bremsen, wo es geht, von der propagierten Einkaufsoffensive der Westunternehmen ganz zu schweigen.
Doch wie kolportierte jüngst das US-Magazin Newsweek einen Kalauer über den Unterschied zwischen den USA und Deutschland? „Die USA haben Bill Clinton, Stevie Wonder, Bob Hope und Jonny Cash. Deutschland hat nur Helmut Kohl, kein Wunder, keine Hoffnung und kein Geld.“
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