: „Schlimmer als Auschwitz“
■ Urbane Grausamkeiten, Gott, Kunst und Diebe: Dimiter Gotscheff inszeniert Lothar Trolles Panoptikum des Schreckens Hermes in der Stadt
Der Autor und der Regisseur sind Komplizen. Sie haben eine gemeinsame, verbindende Geschichte. Man würde zögern, sie hier öffentlich aufzuschreiben, hätte man nicht das Gefühl, die beiden Männer erinnerten sich mit Stolz an ihre illegalen Machenschaften. „Damals, in Ostberlin“, erzählt Lothar Trolle, „da haben wir uns gezeigt, wie man Bücher klaut“. „Und Brötchen“, ergänzt Dimiter Gotscheff. Daß sie ihr Ganovenleben anekdotisch auf einem Pressegespräch zum besten geben, hat weniger damit zu tun, daß der Staat, den sie beklauten, sie heute nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann – es liegt vielmehr daran, daß sie ihr Tun mythisch gerechtfertigt wissen. Schließlich war der antike Gott Hermes der Gott der Diebe und der Kunst. Und von Thomas Mann bis Jean Genet hat kaum jemand die Verbindung von Kunst und Kriminalität bezweifelt.
Hermes in der Stadt entstand 1989. Der Ostberliner Lothar Trolle, geboren 1944 in einem Dorf bei Sangerhausen, verbrachte den Sommer bei seiner Mutter auf dem Land. Zehn Jahre lang hatte er ekelhafte Kriminalberichte aus der Wochenpost ausgeschnitten, aber nun versuchte er, sich „Jamben in all ihrer Schönheit anzueignen“. Antikerezeption stand zu jener Zeit hoch im Kurs, und Trolle – „Ich hab Verstechnik nie begriffen“– schien es plötzlich äußerst reizvoll, sie mit Brechts Forderung nach dramatischer Bearbeitung von Kriminalfällen zu vereinbaren. So begann eine dreimonatige Montagearbeit.
Am Anfang stand die Meldung von einem Mann aus Marzahn, der Kinder übers Telefon dazu aufforderte, aus dem Fenster zu springen. „Töten per Telefon, ohne jede Berührung des Opfers – das ist doch schlimmer als Auschwitz. Da mußte man zumindest eigenhändig die Gaskammer verriegeln.“Ein „Panoptikum des Schreckens“wollte Trolle mit Hermes entwickeln, wohl wissend, daß „Erschrecken im Theater schwierig ist. Da rennen ja alle raus. Der Schrecken muß zwei Tage später kommen.“
So führt Trolle im zweiten Teil des Stücks die Figur des Gottes Hermes ein – „da spreche ich meine eigene dunkle Seite aus“– und fragt im dritten, woher das Böse kommt. Natürlich bleibt diese Frage unbeantwortet. Klar wird allerdings, daß sich das ausgehende 20. Jahrhundert wieder in Richtung Antike bewegt: „Christliche Wertigkeiten sind verloren. Wir kommen zurück zu den archaischen Strukturen.“
Die Uraufführung von Hermes erledigte Frank Castorf 1990 in Berlin, Thirza Bruncken inszenierte das Stück, das nach Trolle zeigt, „wie der Westen verostet“, 1994 in Köln. In Hamburg führt Dimiter Gotscheff Regie, der Trolles Drama einen „echten Eisberg“nennt, „mit Räumen, Abgründen hinter dem Text.“
Die Bücher, zumindest die Hans- Henny-Jahnn-Gesamtausgabe, haben die Künstler übrigens wieder zurückgebracht. Christiane Kühl
Premiere: Donnerstag, 22. Januar, 20 Uhr, Malersaal
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