: „Schließlich kann die DDR noch souveräne Verträge abschließen“
■ Prof. Ulrich Albrecht, zur Zeit Planungschef von Außenminister Meckel, über Abrüstung, Abzug der sowjetischen Truppen und Arbeitsplätze in der DDR-Rüstungsindustrie
INTERVIEW
taz: Der DDR-Verteidigungsminister ist wegen des Ankaufs von 60 MiG-29-Jägern schwer unter Beschuß geraten. Aus der Bundesrepublik wird ihm Inkompetenz und Verschwendung vorgeworfen.
Ulrich Albrecht: Das Ganze ist eine viel kompliziertere Angelegenheit. Als die Sowjets entdeckten, daß sie gegenüber der DDR - zunächst in Mark der DDR in Höhe von über 800 Millionen - im Zahlungsrückstand für Lieferungen waren, wollten sie einfach nur ihr Handelsdefizit ausgleichen. Sie mußten dann allerdings entdecken, daß diese Summe nach dem 1. Juli ein Minus-Saldo in D-Mark sein würde. Da schlugen sie vor, kauft doch rasch einen Posten Düsenjäger. Nachdem das falsche Signal: „Die DDR rüstet auf“ erst mal da war, hat sich allerdings auch die Hardthöhe gemeldet: Die Herren können sich jetzt vorstellen, daß die MiG mit einer neuen Elektronik ausgerüstet, vielleicht sogar den Jäger 90 ersetzen könnte.
Für diese Lieferung gab es also keine weit zurückliegende Vereinbarung?
Nein. Die Luftwaffe hier hat zwar einige MiG 29, aber das war ein Zusatzvorschlag. Es gab eine Reihe von mittelfristigen Verträgen, die von Zeit zu Zeit aktualisiert wurden. Was noch nicht abgeschlossen ist, geht jetzt ein in die Verhandlungsmasse zum Vertrag über „Stationierung und Abzug“ mit der Sowjetunion.
Was hat dieser Vertrag mit dem Waffenarsenal der DDR zu tun?
Nun, da soll auch die Rückgabe von schwerem Gerät an die Russen geregelt werden. Wir hoffen, daß die das zum Teil zurücknehmen, weil wir das Zeug gar nicht verschrotten können. Zum Beispiel gibt es eine Panzerzerstörungsanlage bei Görlitz, die für die anfallenden Mengen ziemlich ineffektiv ist. Jeder Panzer hat etwa so einen ABC-Schutz, das sind Kunststoffplatten, für die die Russen das Patent haben, und da verraten sie uns natürlich nicht die Zusammensetzung. Unsere Chemiker haben zwar angefangen, Abbrandversuche und dergleichen zu machen, aber es stank nur fürchterlich, und es kam Schreckliches dabei raus - in dem Kunststoff ist offensichtlich sehr viel Blei drin. Da haben sie das schnell wieder seingelassen. Also werden die Innengehäuse der Panzer im Moment einfach gestapelt. Bei 700 kann man die noch in irgendeine Scheune packen, aber wenn das Tausende sind und die Schutzenpanzer noch dazukommen... Und worüber wir jetzt sprechen - diese 700 Panzer -, ist nur diese lächerliche Zehn-Prozent-Kürzung, die Honecker noch beschlossen hatte. Was die NVA an Gerät hat - bei Panzern etwa das Zehnfache -, darüber gibt es ja präzise Zahlen, auch über die nach alten Verträgen noch laufenden und fälligen Lieferungen. Die NVA will das Zeug aber nicht mehr, und die Absicht hier ist es, die Verträge vorfristig zu kündigen.
Für welche Waffen laufen denn noch weitere Verträge?
Das geht quer durchs Arsenal. Besonders heftig hat das Eppelmann-Ministerium versucht, die Lieferverträge für Munition, besonders schwere Munition, zu kürzen. Wegen der alten Militärstrategie, die die DDR als Basis für die erste strategische Staffel vorsah, liegen hier Unmengen von Munition. Eine Zahl, die umläuft, ist 300.000 Tonnen. Dieses Zeug muß noch auf Jahre hinaus abtransportiert werden.
Schließen diese Waffenmassen die sowjetischen Bestände ein?
Nein, das sind nur die Lagerbestände der Kampfgruppen und der NVA. Der Bestand an Handfeuerwaffen liegt angeblich bei 800.000 im sogenannten volkseigenen Besitz bei einer Kopfzahl von 175.000, 173.000 bei der NVA und den Kampfgruppen bei etwa 300.000. Diese Flinten muß man ja erst mal geordnet aufbewahren und bewachen, das kostet ein Heidenpersonal. Künftig soll das eine ganz wichtige Aufgabe der anvisierten Territorialarmee sein. Und es muß dann auch noch „de-naturiert“ werden. Es gibt eben einen Beschluß, daß diese Waffen nicht kommerziell veräußert werden. Über die darüber hinaus in der DDR lagernden sowjetischen Bestände ist die DDR-Regierung amtlich nicht informiert. Das war jetzt bei den Chemiewaffen so, und für die Kernwaffen gilt das Gleiche. In den neuen Vertrag soll deshalb auch hineingeschrieben werden, daß die DDR wesentliche Informationsrechte beansprucht.
Aber diesen Vertrag schließt doch die DDR gar nicht mehr ab!
Doch, wir versuchen das.
Worin liegt der Vorteil?
Das Bonner Außenamt tut so, als müßten sie in Vorwegnahme des künftigen Deutschlands diese Fragen mit den Russen aushandeln. Aber von unserer Seite wurde da hart gefightet. Schließlich kann die DDR, solange sie noch besteht, auch souverän Verträge abschließen. Und die Russen ziehen uns auch als Vertragspartner vor. Wir wissen hier einfach besser Bescheid über Standorte und Probleme. Deswegen haben die Russen es jetzt auch plötzlich eilig, erstens, weil die DDR nur noch zeitlich befristet existiert, und auch, weil sich abzeichnet, daß es völlig neue Probleme mit der Bevölkerung gibt. Es fliegen schon mal Steine über Kasernenmauern, es gibt Wandparolen „Russen raus“. Die Russen registrieren: „Wir sind unpopulär.“ Jetzt soll erstmals ein Regierungsbeauftragter eingesetzt werden - nur für die Belange der sowjetischen Streitkräfte. Die Russen bewegen sich hier noch wie in der tiefsten Besatzungszeit: völlig autonom. Wir wissen nicht einmal, wieviel Russen sich zur Zeit im Land aufhalten. Die Schätzungen liegen derzeit bei 700.000, Soldaten plus Familienangehörige plus Zivilbeschäftigte plus Gäste.
Kann die DDR-Regierung definitiv ausschließen, daß grandiose Waffengeschäfte mit den Beständen der NVA oder von seiten russischer Soldaten, die nicht nur ihre Mütze verkaufen, vom Territorium der DDR aus laufen?
Es wird weiterhin verkauft. Die CIA bedrängt uns hier mit Informationen, daß ein NVA-Oberst - die geben uns auch den Namen - in Indien auftritt und Waffen für die DDR verkauft. Eine Reihe von Gesetzen gelten hier einfach nicht mehr. Die Regierung kann zwar verordnen... Es wird auch konkret aufgelistet, worum es geht, in diesem Fall Handfeuerwaffen aus Suhl, die in Indien angeboten wurden. Solche Informationen sind sehr schwer falsifizierbar. Unsere Rüstungsexperten räumten auch ein, das wäre tatsächlich eine Region mit traditionellen Exportbeziehungen. Auf dem Waffenmarkt wird bereits darüber spekuliert, welche und wieviele Waffen denn aus den nun nicht mehr aktiven Beständen der DDR zu erwarten sind. Da geht es nicht nur um Handfeuerwaffen, sondern das reicht bis zum modernen Panzer und zur MiG 29. Aber die Regierungshaltung ist ganz klar: Es wird nicht exportiert. Und es wird erheblicher Aufwand betrieben, diese Waffenberge zu bewachen.
Aber es gibt Korruption, Schalck-Golodkowski war kein Einzelfall. Wir meinen schon, daß wir auf einem Pulverfaß sitzen. Alles, was leicht transportierbar ist, läßt sich schwer unter Kontrolle halten. Aber letztlich ist auch die Bewegung eines Panzers nur ein Transportproblem. Und bei dem Aderlaß, den die NVA jetzt im Frühjahr erlebt hat - den Abgang von 30.000 bis 40.000 Mann -, ist offenbar sehr viel mitgegangen, nicht nur Uniformstücke. Und diese Disziplinlosigkeit scheint mittlerweile auch auf die Russen überzugreifen.
Kommen da nicht alle Vertragsverhandlungen mit der Sowjetunion zu spät?
Nun, wir bewegen uns da sehr zügig. Bis Mitte Juni gab es ja aufgrund des Besatzungsrechts gar keine Verhandlungsmöglichkeit. Zu der Zeit hat die Sowjetunion ja erst den Weg dafür freigemacht, daß mehr passieren kann, als nur Gespräche. Am 20. Juli gab es eine Weisung des Ministerpräsidenten an Meckel und Eppelmann. Und die haben dann schon am Montag darauf Grundüberlegungen für die Vertragsverhandlungen festgelegt. Da wird es dann um eine Einigung gehen zu Zeitraum und Größenordnung des Truppenabzugs. Das hat erste Priorität, dann um die voraussichtlichen Kosten, da wird es zum Beispiel um solche geldtreibenden Nebenfragen gehen wie die Übernahme der Standgelder der Reichsbahn, wenn sich die Entladungen verzögern. Und zuletzt geht es dann um die Modalitäten der Auslösung aus dem Warschauer Vertrag. Im Moment ist ja die Volksarmee noch voll integriert.
Sind die Motive für diese Prioritätensetzung eher ein Ausdruck innenpolitischer Probleme in der DDR oder außenpolitisch motiviert?
Nun, sicher beides. Die zunehmende Ablehnung gegenüber den sowjetischen Truppen ist sicher ein Problem. Aber es kommt auch außenpolitisch hinzu, daß die Bundesregierung mit dem Problem insgesamt am liebsten nichts zu tun haben würde, daß die sowjetischen Kasernen am 1. Dezember am besten alle leerstünden. Das ist ja auch tatsächlich sehr schwierig vorzustellen, daß jetzt plötzlich die Bundeswehr an die sowjetischen Kasernentore rückt.
Soll das heißen, daß die Außenpolitik der Noch-DDR der BRD beziehungsweise dem zukünftigen Deutschland einen Liebesdienst erweist, den Keller aufräumt?
Einen Dienst, ja. Die Aussicht auf Verhandlungserfolg hängt aber auch zusammen damit, daß der Rückzug der sowjetischen Streitkräfte bezuschußt wird. Aus dem Bundeshaushalt kommen Gelder in Milliardenhöhe für die Umzugs- und Abzugskosten. Zum Verhandlungsangebot gehört dann auch, daß die Plattenkombinate, die bisher den DDR-Wohnungsbau dominiert haben, jetzt in der Sowjetunion beim Wohnungsbau zum Einsatz kommen könnten.
Noch einmal zurück zur Konversion: Wird die Rüstungsindustrie in den nächsten Monaten zum größten Strukturkrisenbereich der DDR, oder gibt es Gestaltungsmöglichkeiten?
Die gibt es durchaus. Die DDR-Rüstungindustrie ist zwar riesig, aber kein monolithischer Komplex. 100.000 Arbeitsplätze hingen an diesem Bereich. Das hängt damit zusammen, daß die alte Volksarmee in erheblichem Maße an Rüstungsautarkie interessiert war. 95 Prozent der Gelder für Reparaturen wurden im Lande ausgegeben. Es gab ganze Schatten-Flugzeugfabriken, die nur Ersatzteile produzierten. Diese Versorgungslogik zog sich durch die verschiedenen Waffensysteme durch. Und das wird jetzt überflüssig. Da ist der Schiffbau an der Küste und auch an der Elbe - die DDR war international durchaus anerkannt, was den Bau von Landungsbooten anbetrifft, dann gibt es die Fabriken für Gewehre, Maschinengewehre, Mörser im Thüringisch -Sächsischen, vor allem um Suhl, Flugzeugbau traditionell um Dresden und einige Betriebe für besondere technische Komponenten um Berlin. Weil diese Industrie zersplittert ist, gehen wir eher von günstigen Umstrukturierungschancen aus. Bei Eppelmann gibt es auch einen Beauftragten für Konversion.
Hat Konversion für die DDR den Charakter eines Arbeitsbeschaffungsprogramms?
Das auch. Aber wir sind der Entwicklung ja eigentlich hinterhergelaufen. Wenn auf einmal 40.000 Soldaten weniger da sind, dann steht schon einiges leer. Insgesamt ist die Konversions-Vorstellung hier stärker auf die Veränderung der Unternehmens- und Wirtschaftsstruktur der jeweiligen Regionen bezogen. Vorstellungen zur Produktkonversion im engeren Sinne sind weniger verbreitet. Da kommen Ideen eher aus der Sowjetunion, Panzer nicht zu Pflugscharen, aber zu Baggern, das ist im Angebot.
Interview: Georgia Tornow und Christian Semler
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