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Schlechtbehauste in Paris

200 Häuser und Wohnungen in Paris besetzt / Mieten und Sozialpolitik drängen Arme aus der Stadt / Seit Wochen halten Afrikaner und Franzosen Plätze besetzt  ■  Aus Paris A. Smoltczyk

Seit acht Wochen nun kampieren 37 wohnungslose Familien mit 153 Kindern unter freiem Himmel auf der „Place de la Reunion“ im Pariser Osten. Acht Wochen in zugigen Gemeinschaftszellen, acht Wochen mit einem einzigen Wasserhahn und zwei Behelfstoiletten. Die demonstrative Besetzung eines Platzes, die ursprünglich nur eine symbolische Aktion sein sollte, nachdem die Familien über Nacht aus einem seit 1986 besetzten Haus geworfen wurden (siehe taz vom 4. Mai 1990), ist zum Dauerzustand geworden und hat das Leben im Viertel Menilmontant verändert. Freiwillige aus der Nachbarschaft bereiten das Frühstück, laden die Kinder zum Duschen ein, einige Autonome vom „SCALP“ („Section Carrement Anti Le Pen“) helfen.

Acht Wochen auf engstem Raum zusammengepfercht, ohne daß es zu Erscheinungen von Verwahrlosigung gekommen ist, zu Schmutz, Seuchen und Gewalt. Wo nehmen die afrikanischen Frauen, denen das zu verdanken ist, ihre Geduld, ihre Ruhe her, inmitten des Tohuwabohu von Kindern, Hunden, Neugierigen und dem Verkehrslärm drumherum?

Das gleiche Bild bietet sich auch vor dem Rathaus des 19. Bezirks und auf der butte Montmarte, gleich neben Sacre Coeur: Familien, die buchstäblich auf die Straße gesetzt wurden und seit Wochen in zugigen Zelten vegetieren müssen. Widerstand im Reinzustand: „Wir müssen bleiben, weil wir nirgendwo hin können.“

Rund 200 Häuser und Wohnungen sind zur Zeit in Paris besetzt. Doch herausgehängte Bettücher, Graffiti, sabotierte Baumaschinen wird man nur selten finden. Die „Squatteurs“ bilden keine politische Bewegung. Nackte Not hat die Familien in leerstehende Behausungen getrieben. Für eine Immigrantenfamilie aus Mali oder dem Senegal gibt es in Paris schlechterdings keine Wohnung. 50.000 Menschen stehen auf der Liste der Sozialwohnungsbehörden - knapp 3.000 Sozialwohnungen werden im Jahr gebaut und - vorrangig an Inländer - vergeben. Und auch wenn mehr gebaut würde: Wie soll ein Empfänger des Mindestlohns von 4.700 Francs (umgerechnet 1.500 Mark) Sozialmieten von im Schnitt 1.000 Francs pro Zimmer denn schließlich bezahlen?

Der legendäre und sehr populäre Gründer der Clochard -Bruderschaften „Emmaäs“, der 78jährige Abbe Pierre, hat jetzt zu einem Kreuzzug gegen die Wohnungsnot aufgerufen: „Frankreich ist in einen barbarischen Zustand verfallen, in dem Tausenden von Männern, Frauen und Kindern gesagt werden muß: Ihr seid zuviel!“ Der Präfekt müsse von seinem Recht Gebrauch machen, freistehende Wohnungen, von denen es in Paris immerhin etwa 90.000 gibt, zu beschlagnahmen. Das jedenfalls verlangen Abbe Pierre und das „Komitee der Schlechtbehausten“.

Die Regierung hat einen Vermittler ernannt, Mitterrand sibyllisch seinen Segen erteilt - geschehen ist freilich nichts. Fast nichts: Drei kinderreiche Familien von der Place de la Reunion wurden in die Vorstadt abgeschoben. In ein Abrißhaus ohne Warmwasser und Heizung. Bienvenu a Paris.

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